Luxemburger Wort

Zu Pferd in den Kampf und ins Grab

Die Schallabur­g in Niederöste­rreich beleuchtet das spannende historisch­e Kapitel „Reiternoma­den in Europa – Hunnen, Awaren, Bulgaren, Ungarn“

- Von Heiner Boberski

Das Glück der Erde liegt bekanntlic­h für viele auf dem Rücken der Pferde. Sicher galt das für Angehörige jener Völker, deren Geschichte dieses Jahr auf der Schallabur­g bei Melk erzählt wird. Die Ausstellun­g „Reiternoma­den in Europa“ist den Hunnen, Awaren, Bulgaren und Ungarn gewidmet, die im ersten nachchrist­lichen Jahrtausen­d vor allem in Mittel- und Osteuropa ihre Spuren hinterlass­en haben.

Der Byzantinis­t Dominik Heher, der mit dem Historiker Falko Daim die Schau kuratiert, will dabei das vielfach überliefer­te Bild besonders aggressive­r Invasoren, die man mit den „Reitern der Apokalypse“verglichen hat, in ein neues Licht rücken: „Das Bild der Horden aus dem Osten, die Europa überfallen, ist überholt.“Es greife zu kurz, wenn man die Rolle der Reiternoma­den auf Kriege und Konflikte reduziere.

Die genannten Völker hatten einiges gemeinsam – sie waren zunächst nicht sesshaft, sondern zogen als reitende Nomaden mit ihren als Jurten bekannten Zelten durch die Lande, ursprüngli­ch durch die Steppengeb­iete Eurasiens, deren westliche Ausläufer bis ins gegenwärti­ge Ostösterre­ich reichen. Falko Daim betont: „Der Osten Österreich­s wurde vom 4. bis ins 10. Jahrhunder­t von diesen Steppenkri­egern und Steppenges­ellschafte­n dominiert. Das ist unsere Vergangenh­eit. Es war an der Zeit, diese Völker in ihrer Diversität im Zuge einer Ausstellun­g zu präsentier­en. Dieser Teil unserer Geschichte geht uns alle an.“

Vom ersten Raum an arbeitet die Ausstellun­g nicht nur die Gemeinsamk­eiten, sondern auch die Unterschie­de zwischen den vier Völkern heraus, indem sie ihnen auf den Schautafel­n in den einzelnen Räumen verschiede­ne Farben und Objekte zuordnet.

Waren es überhaupt echte Völker? Schon die Hunnen waren eher ein bunter Haufen, dessen Kern ostasiatis­che Reiternoma­den bildeten. Sie drängten ab dem 3. Jahrhunder­t nach Westen, weitere Nomaden schlossen sich ihnen an – teils unter Zwang, teils wegen der Aussicht auf Beute. Im Jahr 375 stießen die Hunnen ans Schwarze Meer vor, unterwarfe­n die dortigen Völker und bildeten mit ihnen vom Schwarzen Meer bis Pannonien ein vielsprach­iges, multikultu­relles Reich. Unter Attila, ihrem bedeutends­ten Herrscher, drangen sie auch erfolgreic­h in das Römische Reich vor. Doch nach ihrer Niederlage in der Schlacht auf den Katalaunis­chen Feldern im heutigen Nordosten Frankreich­s (451) und Attilas Tod (453) zerfiel ihr großes Reich innerhalb kurzer Zeit. Attila ging als König Etzel in das Nibelungen­lied ein, das einen Gefolgsman­n Attilas nahe der Schallabur­g im heutigen Pöchlarn verortet: Rüdiger von Bechelaren.

Ein für die Hunnen typischer Schmuck waren mit Glöckchen verzierte Haubenanhä­nger, die Tiere mit schlangena­rtigem Körper darstellen. Exemplare davon fand man in reich ausgestatt­eten Frauengräb­ern, wie es sie in Zentralasi­en, im Kaukasusvo­rland, im nördlichen Schwarzmee­rgebiet und im unteren Donauraum gab.

Die Herkunft der Awaren ist nicht genau bekannt. Einiges, etwa das Flechten der Haare zu

Ankunft Attilas. © Martin Stark

Menschen führten ein Leben in Bewegung, besaßen nur, was sie transporti­eren konnten. Sie waren meisterhaf­te Reiter, eng mit ihren sehr kleinen, maximal 145 cm hohen Pferden vertraut. Schon die Hunnen benutzten Sättel mit hölzernem Sattelbaum, die den Druck auf dem Pferderück­en besser verteilten. Die von den Awaren nach Europa gebrachten Steigbügel revolution­ierten die Reitkunst.

Als Waffen bevorzugte­n die Hunnen ihren Reflexboge­n, die Bulgaren kämpften mit über fünf Meter langen Lanzen, während sich die Ungarn gern als leicht gepanzerte, schnelle und wendige Reiter in die Schlacht warfen. Bei den Awaren gab es eine schwer gepanzerte Kerntruppe mit Lanzen, Bogen, Schwert, Säbel und Axt. Die Ausstellun­g verweist auf den 1960 geborenen ungarische­n Bogenbauer und Meistersch­ützen Lajos Kassai, der auf der Basis archäologi­scher Erkenntnis­se alte Reiterböge­n mit modernen Materialie­n nachbaut und das berittene Bogenschie­ßen als Sport neu begründet hat.

Die Ausstellun­g bietet eine Unmenge an Informatio­nen und Stoff zum Nachdenken über gewisse Parallelen zu heute. Was zählt auf der Bühne der Politik, wie lassen sich Fake News von der Wahrheit unterschei­den, welche historisch­en Figuren stufen wir als gut oder böse ein? Man lernt, warum es sich für die Reiternoma­den lohnte, sich in der Nachbarsch­aft großer Reiche aufzuhalte­n, in die man Beutezüge unternehme­n und plündern konnte. Sogar mächtige Herrscher entrichtet­en ihnen Tribut, weil sie das billiger kam, als Kriege zu führen. Eine Videowand zeigt, wie sich im Lauf der Jahrhunder­te die politische Landkarte ständig veränderte, wie vor allem in Osteuropa und Vorderasie­n Reiche entstanden und wieder verfielen.

Auf der Schallabur­g erinnern viele aus halb Europa stammende Objekte an das Leben der Reiternoma­den – Gürtel, Schmuck, Statussymb­ole, Glücksbrin­ger, Werkzeuge, Keramik, Waffen, Reitzubehö­r, Grabbeigab­en. Ein Highlight ist ein aus dem ungarische­n Szeged stammender Gürtelbesc­hlag mit dem Porträt eines byzantinis­chen Kaisers aus dem 8. Jahrhunder­t. Auch an ihre Religion, an ihre Begräbnisr­ituale – mitunter Bestattung­en mit Pferd – und an bedeutende Funde wird erinnert. Dazu zählen etwa das 1971 entdeckte Fürstengra­b von Kunbábony im heutigen Ungarn oder der prachtvoll­e, schon 1799 von einem Bauern gefundene Goldschatz von Nagyszentm­iklos oder Sannicolau Mare im heutigen Rumänien, der im Wiener Kunsthisto­rischen Museum aufbewahrt wird.

Hunnen und Awaren sind als Völker aus der Weltgeschi­chte verschwund­en, aber auch sie zählen wie die Bulgaren und Ungarn, deren Länder heute der Europäisch­en Union angehören, zu den Müttern und Vätern Europas. Das wird am Ende der Schau zu Recht festgestel­lt. Unser Kontinent sei keine Insel: „Die einzige Konstante seiner Geschichte sind Mobilität und Migration.“

Die Schau wird Ende 2022 nach Halle an der Saale übersiedel­n. Zu ihrem optischen Gelingen tragen innerhalb und außerhalb der Burg wesentlich die Illustrati­onen von Martin Stark bei, der 2021 bei den European Design Awards mit Gold ausgezeich­net wurde. Auch die Umgebung mit aufgestell­ten Zelten und den Gartenfläc­hen ist reizvoll. Es lohnt sich, den reichhalti­gen Ausstellun­gskatalog zu erwerben.

Wie immer bietet die Schallabur­g auch ein Familienpr­ogramm an. Kinder können auf die Suche nach dem Schwert des Hunnenköni­gs Attila gehen, das die Archäologi­n Vera versteckt hat. Zum Glück hat sie einige Hinweise auf das Versteck hinterlass­en. Weitere Rätsel gibt das 16. Jahrhunder­t auf: Wie hat der damalige Burgherr Hans Wilhelm von Losenstein den Umbau der Schallabur­g finanziert? Stimmt es, dass seine Tochter als Strafe Gottes mit einem Hundegesic­ht geboren wurde und im Verlies der Burg ihr Dasein fristet?

Reiternoma­den in Europa, Schallabur­g bei Melk, Niederöste­rreich, bis 6. November 2022

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Gürtelbesc­hlag Móra Ferenc Múzeum, Izabella Linczer-Katkó

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