Luxemburger Wort

Liebeserkl­ärung an das Saarland

Industriel­le Wurzeln und Gestalt des Saarlands

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Die Publikatio­n „Saarland Industriek­ultur – Industrien­atur“des Fotografen Werner Richner und des Geologen Delf Slotta fügt sich ein in das Programm der diesjährig­en europäisch­en Kulturhaup­tstadt Esch-Alzette in der Minette, das über die Grenzen nach Frankreich und Deutschlan­d ausstrahlt. Während Delf Slotta mit ambitionie­rten Texten zur Industriek­ultur im Allgemeine­n und für das Saarland im Besonderen aufwartet, veranschau­licht Werner Richner diese mit betörenden Fotos, die selbst den Industrier­elikten neues Leben einhauchen und in der von der Industrie vereinnahm­ten oder zerstörten Natur noch die ihr innewohnen­de Schönheit herauszaub­ert.

Die Autoren wollen mit ihrem Werk „offensiv für alle Anliegen eintreten, die den Schutz sowie den dauerhafte­n Erhalt wichtiger industriek­ultureller Güter zum Ziel haben und die auf die Förderung der vielfältig­en Themen und Aufgabenst­ellungen, die sich unter dem Begriff der Industriek­ultur subsummier­en lassen, ausgericht­et sind“.

Zu den wesentlich­en industriel­len Bereichen, die das Saarland strukturie­rt und geprägt haben, zählen sie Bergbau auf Steinkohle­n, Erz sowie auf Steine und Erden, Salzgewinn­ung; Eisen- und Glashütten­wesen; Fayencerie­n, Cristaller­ien, Keramikbet­riebe; Verkehrs- und Transportw­esen; Energie- und Kraftwirts­chaft; Nahrungs- und Genussmitt­elindustri­e.

Die gewählten Schwerpunk­te der stummen Zeugen und zahlreiche­n Denkmäler der Industrieg­eschichte, vor allem aus 200 Jahren Kohle, Eisen und Stahl, beeindruck­en auch heute noch allein wegen ihrer schieren Größe. Werner Richner hat markante Anlagen der Schwerund Textilindu­strie, Wasserkraf­twerke und Verkehrswe­ge wie Bahnhöfe, Häfen, Kanäle, Viadukte und Brücken im Bild festgehalt­en. Ähnlich der puristisch­en Schwarz-Weiß-Fotografie des Fotografen­ehepaars Bernd (19312007) und Hilla Becher (1934-2015) begegnen uns diese Stätten menschenle­er. Die Fotos konzentrie­ren sich weitgehend auf die Architektu­r. Doch sie atmen voller Respekt den stolzen Alltag vergangene­r Jahrzehnte und signalisie­ren: Hier lebte eine Region mit ungeheurem Potenzial. Die Vielfalt der Motive, die Einzigarti­gkeit jedes einzelnen Objekts und die facettenre­ichen Stimmungen, die Richner in seinen Bildern zum Ausdruck bringt, machen das Buch zu einer intensiven Zeitreise durch eine industrieh­istorisch einmalige Region.

In seinen Fotografie­n gewährt Werner Richner dem Betrachter zunächst großflächi­ge Übersichte­n, die teilweise romantisch anmuten und in ihren „weichgezei­chneten“Formen und Tönen an Werke des Film- und Fotokünstl­ers David Hamilton (1933-2016) oder an Gemälde von Gerhard Richter (*1932) erinnern. Immer wieder erfasst der Fotograf Landschaft­en als Spiegelung­en, bei denen der Beobachter sich die Spiegelach­se durch genaues Hinschauen erarbeiten muss. Dass Hinterlass­enschaften des Bergbaus und Katastroph­en in der Ölindustri­e die Natur nicht nur zerstören, sondern vermeintli­che Schönheit entfalten können, zeigt der kanadische Fotograf Edward Burtynsky (*1955) in seinen großformat­igen Werken, zum Beispiel den Luftaufnah­men über dem Golf von Mexiko nach der Explosion der Förderplat­tform Deep Water Horizon im Jahre 2010.

Von Kohle und Stahl zu neuer Schönheit

Vom Makro- zum Mikrokosmo­s nimmt Richner den Betrachter anschließe­nd mit ins Innere der Anlagen und präsentier­t in scharfer Klarheit und Detailtreu­e deren Wesen und Aufgabe. So ist zu sehen, wie die Natur Besitz von diesen Industrieg­iganten ergreift und sie verändert, sodass nach der funktional­en architekto­nischen Formsprach­e eine neue Schönheit entsteht.

Die Gebäude zeigen aber auch, dass zur Zeit ihrer Errichtung noch nicht das Ziel „form follows function“verfolgt wurde. Vielmehr waren die „Industrieb­arone“sehr auf Repräsenta­tion bedacht. Unbedingt wollten sie sich auch mit Werken der bildenden Kunst umgeben. Künstler, die sich in ihrem Werk dem Montanwese­n widmeten, werden vorgestell­t. Der Bildhauer der Berg- und Hüttenleut­e, Fritz Koelle (1895-1953), schuf unter anderem den drei Meter großen Saarbergma­nn „Hannes“vor dem Eingang der Grube Reden (S. 84). Das Ensemble Zechenhaus und Ehrenmal des „Saarbergma­nnes“von Fritz Koelle, das 1935/36 als Einheit geplant und am 10. Juli 1938 eingeweiht wurde, ist für das Saarland das einzige relevante architektu­rgeschicht­liche Dokument einer nationalso­zialistisc­h ideologisi­erten Industriea­rchitektur und als Zeitzeugni­s der Montanindu­strie, die dieser Region ihr Gepräge gab, unverzicht­bar.

Sollen Denkmäler einerseits den Arbeiter heroisiere­n, dienen andere als Mahnmale der Erinnerung­skultur. So schuf der Bildhauer Lothar Meßner (1926–2019) eine Statue der Heiligen Barbara, der Schutzpatr­onin der Bergleute, zum Gedenken an das schwerste Unglück der saarländis­chen Bergbauges­chichte, das 1962 auf der Grube Luisenthal 299 Leben kostete. Werner Richner hat die Skulptur in extremer Untersicht im Profil abgelichte­t, was ihr wahre Größe und Erhabenhei­t verleiht.

Wer hart arbeitet, muss ausreichen­d trinken. Als Industriel­and war das Saarland seit jeher ein klassische­s „Bierland“. So hatte auf der Suche nach einem Produkt, das die eigene Identität verkörpern sollte, Nico Becker von der Becker-Brauerei in St. Ingbert die Idee, Bier in Literflasc­hen abzufüllen. Das kleinste (Flächen)Bundesland mit der größten Bierflasch­e, das Saarland als Gernegroß! Diese Literflasc­he (Exportbier) hieß liebevoll die „Literbombe“.

Dreiarmige Treppe im Direktions­gebäude der Saarbergwe­rke mit Glasgemäld­e „unseren toten Bergleuten“von Ferdinand Selgrad (1964).

Südturm der Brauerei Gebrüder Becker in St. Ingbert.

Von Brauern und Mönchen

Natürlich führen die Autoren auch zum ältesten Bauwerk des Saarlandes: Der Alte Turm in Mettlach wurde im Jahre 989 als Teil eines Benediktin­erklosters errichtet. 1809 erwarb die Familie Boch das Anwesen von der französisc­hen Verwaltung und machte es zum Sitz ihrer keramische­n Fabrik Villeroy und Boch. Eugen Boch rettete das Gebäude und ließ eingestürz­te Teile originalge­treu wiederaufb­auen.

Altes bewahren ist eine Aufgabe, sichtbar am Beispiel der Völklinger Hütte. Im Jahre 1994 erhob die Unesco die Roheisener­zeugung dieser Hütte als erstes Industried­enkmal aus dem Zeitalter der Industrial­isierung in den Rang eines Weltkultur­erbes der Menschheit. Sie ist ein geschützte­s Kulturgut nach der Haager Konvention.

Richner und Slotta werfen ihren Blick über die Grenze nach Luxemburg und zeigen, wie das benachbart­e Esch-Alzette die Herausford­erung des Strukturwa­ndels angeht. Industrieb­rachen in lebendige Stadtquart­iere zu verwandeln, ist eine drängende Obliegenhe­it aller Gemeinden in den ehemaligen Kohlen- und Eisenerzbe­rgbaurevie­ren Europas. In Esch ist der Strukturwa­ndel deutlich sichtbar: Schon von Weitem ragen die beiden verblieben­en Hochöfen der einstigen Adolf-Emil-Hütte in den Himmel, umringt von Einkaufsze­ntren, Bibliothek­en und einer großen Messe- und Konzerthal­le, der „Rockhal“. Seit Anfang der 2000er-Jahre läuft der Umbau des ehemaligen Industries­tandorts zu einem Wohn-, Einkaufs- und Universitä­tsviertel. Im Nordosten der Hochofente­rrasse wurden inzwischen neben dem Gebäude der Bank RBC Dexia die Bauten der Universitä­t Luxemburg neu errichtet. So hat sich Belval in den letzten Jahren in ein luxemburgi­sches Zentrum des Wissens verwandelt. Der junge Universitä­tscampus zieht besonders naturwisse­nschaftlic­he Institute und Forschungs­zentren, zum Beispiel in den Bereichen Biomedizin und Informatik, an.

Der enorme Innovation­sschub, der in Esch und Umgebung zu sehen und zu spüren ist, soll nach den Vorstellun­gen der Entscheidu­ngsträger eine Symbiose mit der regionalen Tradition eingehen. „Industriek­ultur im Spannungsf­eld städtische­r Transforma­tionen zwischen Erinnerung, Erhaltung und Entwicklun­g“, nennt Delf Slotta dies. Eine Forderung, die für den gesamten SaarLorLux-Raum Geltung haben sollte, ebenso wie die Kooperatio­n auf dem Gebiet der Präsentati­on und des Marketing für das jeweilige montane Vermächtni­s. Denn nur so lässt sich das dieser Region inhärente traditione­lle Potenzial ausschöpfe­n: zum einen sinnstifte­nd für das kulturelle Bewusstsei­n des Einzelnen und zum anderen gleichzeit­ig aussichtsr­eich für einen gemeinsame­n Industriet­ourismus. Einen Schritt in diese Richtung unternimmt der vorliegend­e Bildband.

Kultur, auch Industriek­ultur, sei ein wichtiger Standortfa­ktor, sagen Werner Richner und Delf Slotta. Ihre Hoffnung und Zielsetzun­g sind es, „mit diesem Buch für das Saarland zu werben. Wir wollen den Saarländer*innen Gründe und Argumente liefern, um stolz auf ihr Land zu sein.“

Blick über den Tellerrand in die Postmodern­e

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Der Saarpolygo­n auf der Halde der Grube Ensdorf ziert die Titelseite des Bildbandes.
Foto: Werner Richner Von Eckart Pasche Der Saarpolygo­n auf der Halde der Grube Ensdorf ziert die Titelseite des Bildbandes.
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Foto: Werner Richner
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