Antrophologie in virtuellen Welten
Als Tourist unterwegs in der wunderbaren Welt von Bertrand Dezoteux
Hafen von Nantes, 25. Juni 1837: „Es gibt in Frankreich nichts Unangenehmeres als der Moment, in dem ein Dampfschiff anlegt, wenn jeder seinen Koffer oder sein Bündel ergreifen will und dabei gnadenlos die aufgestapelten Habseligkeiten auf der Brücke umwirft“, ereiferte sich Stendhal's Reisender bei seiner Ankunft in Nantes. Beim Schriftsteller ging aber er aber kein gewöhnlicher Reisender, sondern ein „Tourist“, jemand dessen Reise nur dem eigenen Vergnügen dient. Eine neuartige Bezeichnung, erst seit kurzem dem Englischen entnommen, die die französische Sprache bereichert hat. Stendhal nannte sein Werk „Mémoires d'un touriste“, was ihn damit zum ersten „Touristen“der französischen Literatur machte.
Hafen von Nantes, heute: Von Bord gehen hier schon lange keine Touristen mehr. Sie kommen mit Bus oder Auto und durchstreifen das postindustrielle Ambiente des ehemaligen Hafens geprägt von Vergnügen und Kultur. Der ehemalige Bananenhangar hat ausgedient, er beherbergt jetzt die HAB-Kunsthalle, in der auch der Künstler Bertrand Dezoteux eingeladen war und sich die Frage stellte: „Le tourisme est-il un art?“Dezoteux, dessen Werk als unklassifizierbar angesehen wird, entwarf eine Reise durch seine surrealistische wie auch vieldeutige Welt und gab ihr in Anlehnung an Stendhal den Ausstellungstitel „Mémoires d‘un touriste“: der Besucher als Tourist. Seine bunte und spektakuläre Reise hat er in mehreren Linien verflochten. Gerade in Nantes spielen Linien eine wichtige Rolle. Die rezenten Tramlinien gaben der Stadt ein neues Rückgrat und die ‚ligne verte‘ ist inzwischen zu einem kulturellen Wahrzeichen für Nantes geworden. Sie bietet dem kunstinteressierten Touristen Begegnungen mit rund 50 Kunstwerken, darunter „Les Brutalistes“von Martine Feipel und Jean Bechameil.
Die HAB-Kunsthalle (HAB steht für Hangar à bananes) teilte Dezoteux in zwei große Räume auf, die in starkem Kontrast zueinander stehen. Der erste Raum zeigte eine gewollt subjektive Auswahl an etwa zwanzig Gemälden aus den Kollektionen der FRAC Loire und des Musée d'Arts Nantes. Für den Besucher bot sich die Gelegenheit, vielen Künstlern mit Bezug zu Nantes, zur Loire oder zur Bretagne zu begegnen: Loïc Dubigeon „Le Mans“(1964), die naiv malenden Simone Le Moigne „Village de Preux, Saint Herblain“(1982) und André Bauchant „Magnolies et narcisse“(1931), den Marinemaler Jules Achille „Rade de Brest“(1844), Laure Martin „L'âne gris“, den Naturalisten Edourad Dantan „Moine sculptant un Christ en bois“(1874) wie auch den amerikanisch/britischen Künstler John Murphy mit „Sunk into solitude“(1987).
In Bertrand Dezoteux eigenes Universum gelangte man im Übergang zum zweiten großen Raum und seiner ‚opéra cosmique‘, einem 3DAnimationsfilm in zwei Episoden. „Harmonie“und „Harmonie/Résurrection“, eine Mischung aus Science-Fiction und Musical, setzten die
Evangelisierungsmission des 33jährigen Jésus Perez, einem Abgesandten der Menschheit auf dem Exoplaneten Harmonie, in Szene. Dessen Namen entlehnt sich der Landschaften in Regenbogenform, aber auch der bizarren Genetik seiner Bewohner. Inspiriert hat sich der Künstler beim Ballett „Parade“von Jean Cocteau auf eine Musik von Erik Satie und mit einer Szenografie von Pablo Picasso. Man begegnet hier sonderbaren visuellen Objekten, die keiner Norm entsprechen in einem surrealistischen (Science-)Fiktion/Dokumentarfilm mit teils sehr überzogenen Figuren, wobei er hier eine bewusst einfach gehaltene 3D-Technik mit einer stark präsenten Ästhetik einsetzte.
Als eine Referenz an die ‚ligne verte‘ entwarf Dezoteux seine Installation „Matrice“. Angelehnt an die unecht erscheinende und vorgetäuschte Welt des Filmes „Matrix“schlängelte sich hier eine lange weiße mit Watte gefüllte, raumfüllende Kopfkissenrolle. Die verwendeten Fließstoffe und Gewebe erinnerten dabei an Drüsen, Früchte, Gemüse, Körper- und Geschlechtsteile. Die weißen Mauern säumten 33 Silhouetten von Touristen die entlang der ‚ligne verte‘ fotografiert wurden.
„Ich beobachte als Amateur-Antrophologe das Leben in virtuellen Welten“, so Bertrand Dezoteux, der inzwischen als Meister des digitalen Mischens und der ‚fiction de synthèse‘ angesehen wird. „Weil meine Filme sich oft am Schnittpunkt vieler Fragen befinden, haben einige von ihnen einen Bezug zu meiner eigenen Geschichte, andere zur Technologie und deren Auswirkung auf Erzählung und Erinnerung“. Ein weiteres projiziertes 3D-Werk „Endymion“inspiriert sich an der Space opera des amerikanischen Schriftstellers Dan Simmons. Dieser verlieh dann auch der Figur Salvadam Dalire, eine Mischung von Dali und Amanda Lear, der eine fliegende DS steuert und sich dabei mit Mamilou, einer Figur, für die er sich bei seiner Großmutter inspirierte und die auch ihrem Avatar die Stimme verlieh, und mit dem Schwein TxerriPunk unterhält. Dieses Trio stellt Hypothesen über Theorien auf und versucht dabei die Mysterien des Universums und der menschlichen Vernunft zu durchdringen. „Dali ist die Figur, die ich im Collège verwendet hatte, um meinen Wunsch Künstler zu werden, Ausdruck zu verleihen. Endymion (der auch der Gott der Träume ist) ist aber auch meine Interpretation dieser Space opera, indem ich das Unbewusste der Familie erforschte, dazu führte ich auch Interviews mit den Mitgliedern meiner Familie“, so Dezoteux.
Opéra cosmique
Der Künstler als AmateurAntrophologe
Begegnungen
„Nantes ist für mich das Land der Begegnungen“, ließ Stendhal seinen Touristen anmerken, spendierte ihm einen Rundgang durch das Musée d'arts in Nantes und entließ ihn dort mit der Frage: „Was mitnehmen, wenn man mir in diesem Museum die Wahl lassen würde?“Für das HAB Nantes könnte die Antwort lauten: Die Begegnung mit einem Künstler, der seine Carte blanche nutzte, um mit einem unterschwellig ironischen Ton (er bewundert selbst die Arbeiten von Bruce Nauman) dem Besucher als Touristen Begegnungen auf verflochtenen Linien in seiner surrealistischen, wunderbaren und fantastischen Welt anzubieten. Seine Vorliebe für 3D-Animationsfilme hatte Bertrand Dezoteux am Studio national des Arts Contemporains in Tourcoing entdeckt: „Ich habe in diesem Medium die idealen Voraussetzungen für meine Kreationen gefunden, eine gewisse Autonomie, die Möglichkeit Geschichten zu erzählen, spektakuläre Sachen mit drei Mal nichts zu machen und ich möchte diese Technik entsakralisieren“.
Die primäre Aufgabe der Nationalbibliothek ist das Sammeln, Dokumentieren und Archivieren aller auf luxemburgischem Staatsgebiet publizierten Schriften. Hierzu zählen selbstverständlich auch digitale Inhalte, wie etwa das Luxemburger Internet, das per webharvesting durchforstet und archiviert wird. Weniger bekannt ist, dass es in Luxemburg auch einen Markt für E-Books gibt, der sich fast ausschließlich aus literarischen Werken zusammensetzt. So umfasst die noch junge Kollektion elektronischer Literatur in der BnL knapp über hundert Einzelwerke, die in den letzten zehn Jahren erschienen sind: Romane, Kurzgeschichtensammlungen, Gedichtbände, Kinderbücher und Comics.
Im Vergleich zum Papierformat bieten digitale Inhalte nicht nur breiter gefächerte Verkaufsund Rezeptionsmöglichkeiten, sie erlauben zudem neue Arten der Recherche: die Stichwort- und Datumssuche auf dem eluxemburgensia-Portal der BnL ist nur ein Beispiel. In den digital humanities, wo computergestützte Verarbeitungsmethoden auf geisteswissenschaftliche Forschungsfragen angewendet werden, spricht man in diesem Kontext von distant reading. Das vom Komparatisten Franco Moretti geprägte Schlagwort steht in Opposition zu einem Standardanalyseverfahren der Literaturwissenschaft, dem close reading, also der analytischen Lektüre einiger weniger Werke oder auch nur ausgewählter Textpassagen. Demgegenüber setzt man beim distant reading auf das algorithmengestützte Durchkämmen größerer Textkorpora, die z. B. hinsichtlich statistischer Daten zu Stil, Vokabular und Wortfrequenzen untersucht werden. Die so gewonnenen Rohdaten bedürfen zwar der weiteren Interpretation, fußen jedoch auf empirisch nachweisbaren Grundlagen. Moretti plädiert für diesen Paradigmenwechsel, wissend, dass die in den Geisteswissenschaften aufzuarbeitenden Datenmengen traditionelle Rechercheund Rezeptionsmethoden an ihre Grenzen bringen.
Ein Standardverfahren der digital humanities stellt die sogenannte „Named-Entity-Recognition“dar, bei der mit großen Datenmengen angelernte Sprachverarbeitungsmodelle automatisiert Eigennamen aus Textkorpora extrahieren, z. B. Personen- und Firmenamen, aber auch geografische Einheiten, wie Länder, Städte, Straßen und Orte. Die so gewonnenen Daten erlauben ungewohnte (Makro-)Perspektiven auf die luxemburgische Literatur, wie am Beispieli von sieben deutschsprachigen E-Booksii aus der Luxemburgensia-Sammlung aufgezeigt werden soll (vgl. Abb.).
Bereits auf den ersten Blick zeigen sich beträchtliche Unterschiede zwischen den untersuchten Werken: Nora Wageners in Deutschland spielender Gegenwartsroman Menschenliebe und Vogel, schrei enthält nur eine einzige direkte geografische Referenz, indes der historische Roman André Links sowohl nationale als auch internationale Schauplätze in den Fokus rückt. „Luxemburg“und „Paris“sind mit jeweils vier Nennungen im Korpus am häufigsten vertreten. Die über den ganzen Globus verteilten Lokalitäten reflektieren die kosmopolitische Weltoffenheit der untersuchten Werke und widersprechen dem Klischee einer auf sich bezogenen Regionalliteratur, das dem luxemburgischen Schrifttum noch immer anhaftet. Bezeichnenderweise hat das Sprachverarbeitungsmodell auch „Sodom und Gomorra“in Charles Meders Aname als geografische Referenz markiert: eine formal korrekte Kategorisierung, die jedoch die semantische Funktion der Redewendung verkennt. Da neuronale Netzwerke Texte nicht in einem traditionellen Sinn verstehen, sondern nach erlernten, statistisch signifikanten Mustern suchen, stellen Kommunikationsmodi, die über die wörtliche
Bedeutung hinausgehen (Metapher, Ironie…), eine methodologische Herausforderung dar. Dies zeigt sich z. B. bei der komputationellen Sentimentanalyse, die die mit einem Text oder einer literarischen Figur konnotierten Emotionen und Stimmungen eruieren soll.
Die spezifischen Stärken und Schwächen der neuronalen Netzwerke beeinflussen unmittelbar Forschungsschwerpunkte und Methoden der komputationellen Literaturwissenschaft, die sich von literaturtheoretischen Abstraktionen entfernt, um die eigentlichen konstitutiven Bausteine der Literatur, Wörter und Sätze, in den Mittelpunkt zu rücken. *Yorick Schmit ist Digital Curator in der Nationalbibliothek
Die Textextraktion wurde mit der Python-Bibliothek spacy durchgeführt. Die Daten wurden anschließend mit der open-source Software Gephi visualisiert.
Aname (Charles Meder, 2017), Auf Winters Schneide (André Link, 2010), Die Männer im Schatten (Marc Graas, 2009), Menschenliebe und Vogel, schrei (Nora Wagener, 2011), Nach dem Regen (Linda Graf, 2008), Nicht zu spät (Anja Di Bartolomeo, 2019), Paris – ein Ende (Albert Mambourg, 2022), Pfarrerblock 25487 (Jean Bernard, 2012 (erstmals 1945 als Feuilleton-Folge erschienen)).