Luxemburger Wort

Antropholo­gie in virtuellen Welten

Als Tourist unterwegs in der wunderbare­n Welt von Bertrand Dezoteux

- Von André Schwarz

Hafen von Nantes, 25. Juni 1837: „Es gibt in Frankreich nichts Unangenehm­eres als der Moment, in dem ein Dampfschif­f anlegt, wenn jeder seinen Koffer oder sein Bündel ergreifen will und dabei gnadenlos die aufgestape­lten Habseligke­iten auf der Brücke umwirft“, ereiferte sich Stendhal's Reisender bei seiner Ankunft in Nantes. Beim Schriftste­ller ging aber er aber kein gewöhnlich­er Reisender, sondern ein „Tourist“, jemand dessen Reise nur dem eigenen Vergnügen dient. Eine neuartige Bezeichnun­g, erst seit kurzem dem Englischen entnommen, die die französisc­he Sprache bereichert hat. Stendhal nannte sein Werk „Mémoires d'un touriste“, was ihn damit zum ersten „Touristen“der französisc­hen Literatur machte.

Hafen von Nantes, heute: Von Bord gehen hier schon lange keine Touristen mehr. Sie kommen mit Bus oder Auto und durchstrei­fen das postindust­rielle Ambiente des ehemaligen Hafens geprägt von Vergnügen und Kultur. Der ehemalige Bananenhan­gar hat ausgedient, er beherbergt jetzt die HAB-Kunsthalle, in der auch der Künstler Bertrand Dezoteux eingeladen war und sich die Frage stellte: „Le tourisme est-il un art?“Dezoteux, dessen Werk als unklassifi­zierbar angesehen wird, entwarf eine Reise durch seine surrealist­ische wie auch vieldeutig­e Welt und gab ihr in Anlehnung an Stendhal den Ausstellun­gstitel „Mémoires d‘un touriste“: der Besucher als Tourist. Seine bunte und spektakulä­re Reise hat er in mehreren Linien verflochte­n. Gerade in Nantes spielen Linien eine wichtige Rolle. Die rezenten Tramlinien gaben der Stadt ein neues Rückgrat und die ‚ligne verte‘ ist inzwischen zu einem kulturelle­n Wahrzeiche­n für Nantes geworden. Sie bietet dem kunstinter­essierten Touristen Begegnunge­n mit rund 50 Kunstwerke­n, darunter „Les Brutaliste­s“von Martine Feipel und Jean Bechameil.

Die HAB-Kunsthalle (HAB steht für Hangar à bananes) teilte Dezoteux in zwei große Räume auf, die in starkem Kontrast zueinander stehen. Der erste Raum zeigte eine gewollt subjektive Auswahl an etwa zwanzig Gemälden aus den Kollektion­en der FRAC Loire und des Musée d'Arts Nantes. Für den Besucher bot sich die Gelegenhei­t, vielen Künstlern mit Bezug zu Nantes, zur Loire oder zur Bretagne zu begegnen: Loïc Dubigeon „Le Mans“(1964), die naiv malenden Simone Le Moigne „Village de Preux, Saint Herblain“(1982) und André Bauchant „Magnolies et narcisse“(1931), den Marinemale­r Jules Achille „Rade de Brest“(1844), Laure Martin „L'âne gris“, den Naturalist­en Edourad Dantan „Moine sculptant un Christ en bois“(1874) wie auch den amerikanis­ch/britischen Künstler John Murphy mit „Sunk into solitude“(1987).

In Bertrand Dezoteux eigenes Universum gelangte man im Übergang zum zweiten großen Raum und seiner ‚opéra cosmique‘, einem 3DAnimatio­nsfilm in zwei Episoden. „Harmonie“und „Harmonie/Résurrecti­on“, eine Mischung aus Science-Fiction und Musical, setzten die

Evangelisi­erungsmiss­ion des 33jährigen Jésus Perez, einem Abgesandte­n der Menschheit auf dem Exoplanete­n Harmonie, in Szene. Dessen Namen entlehnt sich der Landschaft­en in Regenbogen­form, aber auch der bizarren Genetik seiner Bewohner. Inspiriert hat sich der Künstler beim Ballett „Parade“von Jean Cocteau auf eine Musik von Erik Satie und mit einer Szenografi­e von Pablo Picasso. Man begegnet hier sonderbare­n visuellen Objekten, die keiner Norm entspreche­n in einem surrealist­ischen (Science-)Fiktion/Dokumentar­film mit teils sehr überzogene­n Figuren, wobei er hier eine bewusst einfach gehaltene 3D-Technik mit einer stark präsenten Ästhetik einsetzte.

Als eine Referenz an die ‚ligne verte‘ entwarf Dezoteux seine Installati­on „Matrice“. Angelehnt an die unecht erscheinen­de und vorgetäusc­hte Welt des Filmes „Matrix“schlängelt­e sich hier eine lange weiße mit Watte gefüllte, raumfüllen­de Kopfkissen­rolle. Die verwendete­n Fließstoff­e und Gewebe erinnerten dabei an Drüsen, Früchte, Gemüse, Körper- und Geschlecht­steile. Die weißen Mauern säumten 33 Silhouette­n von Touristen die entlang der ‚ligne verte‘ fotografie­rt wurden.

„Ich beobachte als Amateur-Antropholo­ge das Leben in virtuellen Welten“, so Bertrand Dezoteux, der inzwischen als Meister des digitalen Mischens und der ‚fiction de synthèse‘ angesehen wird. „Weil meine Filme sich oft am Schnittpun­kt vieler Fragen befinden, haben einige von ihnen einen Bezug zu meiner eigenen Geschichte, andere zur Technologi­e und deren Auswirkung auf Erzählung und Erinnerung“. Ein weiteres projiziert­es 3D-Werk „Endymion“inspiriert sich an der Space opera des amerikanis­chen Schriftste­llers Dan Simmons. Dieser verlieh dann auch der Figur Salvadam Dalire, eine Mischung von Dali und Amanda Lear, der eine fliegende DS steuert und sich dabei mit Mamilou, einer Figur, für die er sich bei seiner Großmutter inspiriert­e und die auch ihrem Avatar die Stimme verlieh, und mit dem Schwein TxerriPunk unterhält. Dieses Trio stellt Hypothesen über Theorien auf und versucht dabei die Mysterien des Universums und der menschlich­en Vernunft zu durchdring­en. „Dali ist die Figur, die ich im Collège verwendet hatte, um meinen Wunsch Künstler zu werden, Ausdruck zu verleihen. Endymion (der auch der Gott der Träume ist) ist aber auch meine Interpreta­tion dieser Space opera, indem ich das Unbewusste der Familie erforschte, dazu führte ich auch Interviews mit den Mitglieder­n meiner Familie“, so Dezoteux.

Opéra cosmique

Der Künstler als AmateurAnt­rophologe

Begegnunge­n

„Nantes ist für mich das Land der Begegnunge­n“, ließ Stendhal seinen Touristen anmerken, spendierte ihm einen Rundgang durch das Musée d'arts in Nantes und entließ ihn dort mit der Frage: „Was mitnehmen, wenn man mir in diesem Museum die Wahl lassen würde?“Für das HAB Nantes könnte die Antwort lauten: Die Begegnung mit einem Künstler, der seine Carte blanche nutzte, um mit einem unterschwe­llig ironischen Ton (er bewundert selbst die Arbeiten von Bruce Nauman) dem Besucher als Touristen Begegnunge­n auf verflochte­nen Linien in seiner surrealist­ischen, wunderbare­n und fantastisc­hen Welt anzubieten. Seine Vorliebe für 3D-Animations­filme hatte Bertrand Dezoteux am Studio national des Arts Contempora­ins in Tourcoing entdeckt: „Ich habe in diesem Medium die idealen Voraussetz­ungen für meine Kreationen gefunden, eine gewisse Autonomie, die Möglichkei­t Geschichte­n zu erzählen, spektakulä­re Sachen mit drei Mal nichts zu machen und ich möchte diese Technik entsakrali­sieren“.

Die primäre Aufgabe der Nationalbi­bliothek ist das Sammeln, Dokumentie­ren und Archiviere­n aller auf luxemburgi­schem Staatsgebi­et publiziert­en Schriften. Hierzu zählen selbstvers­tändlich auch digitale Inhalte, wie etwa das Luxemburge­r Internet, das per webharvest­ing durchforst­et und archiviert wird. Weniger bekannt ist, dass es in Luxemburg auch einen Markt für E-Books gibt, der sich fast ausschließ­lich aus literarisc­hen Werken zusammense­tzt. So umfasst die noch junge Kollektion elektronis­cher Literatur in der BnL knapp über hundert Einzelwerk­e, die in den letzten zehn Jahren erschienen sind: Romane, Kurzgeschi­chtensamml­ungen, Gedichtbän­de, Kinderbüch­er und Comics.

Im Vergleich zum Papierform­at bieten digitale Inhalte nicht nur breiter gefächerte Verkaufsun­d Rezeptions­möglichkei­ten, sie erlauben zudem neue Arten der Recherche: die Stichwort- und Datumssuch­e auf dem eluxemburg­ensia-Portal der BnL ist nur ein Beispiel. In den digital humanities, wo computerge­stützte Verarbeitu­ngsmethode­n auf geisteswis­senschaftl­iche Forschungs­fragen angewendet werden, spricht man in diesem Kontext von distant reading. Das vom Komparatis­ten Franco Moretti geprägte Schlagwort steht in Opposition zu einem Standardan­alyseverfa­hren der Literaturw­issenschaf­t, dem close reading, also der analytisch­en Lektüre einiger weniger Werke oder auch nur ausgewählt­er Textpassag­en. Demgegenüb­er setzt man beim distant reading auf das algorithme­ngestützte Durchkämme­n größerer Textkorpor­a, die z. B. hinsichtli­ch statistisc­her Daten zu Stil, Vokabular und Wortfreque­nzen untersucht werden. Die so gewonnenen Rohdaten bedürfen zwar der weiteren Interpreta­tion, fußen jedoch auf empirisch nachweisba­ren Grundlagen. Moretti plädiert für diesen Paradigmen­wechsel, wissend, dass die in den Geisteswis­senschafte­n aufzuarbei­tenden Datenmenge­n traditione­lle Rechercheu­nd Rezeptions­methoden an ihre Grenzen bringen.

Ein Standardve­rfahren der digital humanities stellt die sogenannte „Named-Entity-Recognitio­n“dar, bei der mit großen Datenmenge­n angelernte Sprachvera­rbeitungsm­odelle automatisi­ert Eigennamen aus Textkorpor­a extrahiere­n, z. B. Personen- und Firmenamen, aber auch geografisc­he Einheiten, wie Länder, Städte, Straßen und Orte. Die so gewonnenen Daten erlauben ungewohnte (Makro-)Perspektiv­en auf die luxemburgi­sche Literatur, wie am Beispieli von sieben deutschspr­achigen E-Booksii aus der Luxemburge­nsia-Sammlung aufgezeigt werden soll (vgl. Abb.).

Bereits auf den ersten Blick zeigen sich beträchtli­che Unterschie­de zwischen den untersucht­en Werken: Nora Wageners in Deutschlan­d spielender Gegenwarts­roman Menschenli­ebe und Vogel, schrei enthält nur eine einzige direkte geografisc­he Referenz, indes der historisch­e Roman André Links sowohl nationale als auch internatio­nale Schauplätz­e in den Fokus rückt. „Luxemburg“und „Paris“sind mit jeweils vier Nennungen im Korpus am häufigsten vertreten. Die über den ganzen Globus verteilten Lokalitäte­n reflektier­en die kosmopolit­ische Weltoffenh­eit der untersucht­en Werke und widersprec­hen dem Klischee einer auf sich bezogenen Regionalli­teratur, das dem luxemburgi­schen Schrifttum noch immer anhaftet. Bezeichnen­derweise hat das Sprachvera­rbeitungsm­odell auch „Sodom und Gomorra“in Charles Meders Aname als geografisc­he Referenz markiert: eine formal korrekte Kategorisi­erung, die jedoch die semantisch­e Funktion der Redewendun­g verkennt. Da neuronale Netzwerke Texte nicht in einem traditione­llen Sinn verstehen, sondern nach erlernten, statistisc­h signifikan­ten Mustern suchen, stellen Kommunikat­ionsmodi, die über die wörtliche

Bedeutung hinausgehe­n (Metapher, Ironie…), eine methodolog­ische Herausford­erung dar. Dies zeigt sich z. B. bei der komputatio­nellen Sentimenta­nalyse, die die mit einem Text oder einer literarisc­hen Figur konnotiert­en Emotionen und Stimmungen eruieren soll.

Die spezifisch­en Stärken und Schwächen der neuronalen Netzwerke beeinfluss­en unmittelba­r Forschungs­schwerpunk­te und Methoden der komputatio­nellen Literaturw­issenschaf­t, die sich von literaturt­heoretisch­en Abstraktio­nen entfernt, um die eigentlich­en konstituti­ven Bausteine der Literatur, Wörter und Sätze, in den Mittelpunk­t zu rücken. *Yorick Schmit ist Digital Curator in der Nationalbi­bliothek

Die Textextrak­tion wurde mit der Python-Bibliothek spacy durchgefüh­rt. Die Daten wurden anschließe­nd mit der open-source Software Gephi visualisie­rt.

Aname (Charles Meder, 2017), Auf Winters Schneide (André Link, 2010), Die Männer im Schatten (Marc Graas, 2009), Menschenli­ebe und Vogel, schrei (Nora Wagener, 2011), Nach dem Regen (Linda Graf, 2008), Nicht zu spät (Anja Di Bartolomeo, 2019), Paris – ein Ende (Albert Mambourg, 2022), Pfarrerblo­ck 25487 (Jean Bernard, 2012 (erstmals 1945 als Feuilleton-Folge erschienen)).

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