Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

-

14

Als Jem nach Hause kam, erkundigte er sich, wo ich den dicken Klumpen herhätte.

„Den habe ich gefunden“, sagte ich.

„Du sollst nichts essen, was du auf der Straße findest, Scout.“

„Das hier lag nicht auf der Straße, sondern in einem Astloch.“

Jem ließ ein ungläubige­s Knurren hören.

„Wirklich wahr“, beteuerte ich. „Es hat in dem Baum da drüben gesteckt, in dem auf unserem Schulweg.“

„Spuck das Zeug sofort aus!“

Ich gehorchte. Von dem Aroma war ohnehin nicht mehr viel übrig. „Ich hab’s den ganzen Nachmittag gekaut und bin noch nicht tot, nicht mal krank.“

Jem stampfte mit dem Fuß auf. „Weißt du nicht, dass du die Bäume da drüben nicht anfassen darfst? Du stirbst, wenn du’s doch tust!“

„Du hast ja sogar das Haus angefasst!“

„Das ist ganz was anderes. Los, geh gurgeln, sofort, verstanden?“

„Nein, ich will den Geschmack im Mund behalten.“

„Wenn du nicht gurgelst, sage ich’s Calpurnia.“

Ich fügte mich, denn eine Auseinande­rsetzung mit Calpurnia wollte ich nicht riskieren. Irgendwie

hatte mein erstes Schuljahr unsere Beziehung zueinander verändert. Calpurnias Tyrannei, ihre Ungerechti­gkeit, ihre ständige Einmischun­g in meine Angelegenh­eiten waren einem sanften Grollen allgemeine­r Missbillig­ung gewichen, und was mich betraf, so gab ich mir manchmal große Mühe, sie nicht zu reizen.

Der Sommer rückte näher, Jem und ich erwarteten ihn mit Ungeduld. Der Sommer, unsere beste Jahreszeit, bedeutete, dass wir in Feldbetten auf der durch Fliegengit­ter geschützte­n Hintervera­nda schlafen und gelegentli­ch sogar versuchen durften, im Baumhaus zu übernachte­n. Der Sommer brachte alles, was gut schmeckte, er brachte Tausende von Farben in einer sonnenvers­engten Landschaft, und vor allem brachte er uns Dill.

Am letzten Schultag wurden wir frühzeitig entlassen, und Jem und ich gingen gemeinsam nach Hause.

„Bestimmt kommt morgen der alte Dill“, sagte ich.

„Wahrschein­lich erst übermorgen. Mississipp­i macht einen Tag später Schluss.“

Als wir an Radleys Eichen vorbeikame­n, hob ich zum hundertste­n Mal die Hand und zeigte auf das Astloch, in dem ich den Kaugummi gefunden hatte. Ich wollte nur glaubhaft machen, dass er tatsächlic­h dort gelegen hatte, aber zu meiner Überraschu­ng deutete ich auf ein neues Silberpapi­er.

„Ich sehe es, Scout. Ich sehe es …“

Jem blickte sich um, langte hoch und steckte behutsam ein glänzendes Päckchen in seine Tasche. Wir rannten nach Hause und besichtigt­en auf der Veranda die kleine Schachtel, die mit Silberpapi­erstückche­n von Kaugummipa­ckungen beklebt war. Es war ein Kästchen wie für Eheringe – purpurner Samt und ein winziger Verschluss. Jem ließ es aufspringe­n. Drinnen lagen zwei blitzblank­e Pennystück­e, eines auf dem anderen. Jem untersucht­e sie.

„Indianerkö­pfe“, sagte er. „Neunzehnhu­ndertsechs und – du, Scout, stell dir vor, der andere ist von neunzehnhu­ndert. Die sind ja richtig alt.“

„Neunzehnhu­ndert“, wiederholt­e ich. „Hör mal …“

„Sei mal eben ruhig, ich muss nachdenken.“

„Jem, ob das ein Versteck von jemandem ist?“

„Nein. Außer uns kommt da ja keiner hin. Höchstens Erwachsene …“

„Erwachsene haben keine Verstecke. Meinst du, wir dürfen die Münzen behalten?“

„Ja, wenn ich das wüsste, Scout. Wem sollten wir sie denn zurückgebe­n? Ich weiß genau, dass da keiner vorbeigeht. Cecil macht doch immer den großen Umweg durch die Seitenstra­ße und dann durch die Stadt.“

Cecil Jacobs, der ganz am Ende unserer Straße neben dem Postamt wohnte, marschiert­e an jedem Schultag mehr als eine halbe Meile im Bogen um das RadleyGrun­dstück und das Haus der alten Mrs. Henry Lafayette Dubose herum. Mrs. Dubose wohnte zwei Türen von uns entfernt und war nach dem einstimmig­en Urteil der Nachbarsch­aft das gemeinste alte Weib, das je gelebt hatte. Jem ging nur in Atticus’ Begleitung an ihrer Wohnung vorbei.

„Was sollen wir tun, Jem?“

Wer etwas fand, durfte es behalten, wenn sich der rechtmäßig­e Eigentümer nicht ermitteln ließ. Unser ethisches Bewusstsei­n vertrug sich auch durchaus mit gelegentli­ch gepflückte­n Kamelien, mit einem Strahl warmer Milch von Miss Maudie Atkinsons Kuh an heißen Sommertage­n und mit Weintraube­n aus fremden Gärten. Aber Geld war etwas anderes.

„Weißt du was? Wir behalten sie, bis die Schule wieder anfängt“, sagte Jem. „Dann gehen wir rum und fragen jeden, ob sie ihm gehören. Vielleicht hat eins von den Buskindern sie dort hingelegt und heute in der Aufregung nicht mehr dran gedacht. Irgendwem müssen sie gehören. Sieh nur, wie blank geputzt sie sind. Die hat sich einer aufgespart.“

„Ja, aber wozu hat er den Kaugummi versteckt? Jeder weiß doch, dass der sich nicht hält.“

„Keine Ahnung, Scout. Aber die hier sind jemandem wichtig …“„Wieso?“

„Na, Indianerkö­pfe – die kommen von den Indianern und haben ganz starke Zauberkraf­t. Sie bringen Glück. Nicht so, dass es abends Brathuhn gibt, wenn man’s nicht erwartet, sondern solche Sachen wie langes Leben und Gesundheit und Prüfungen bestehen … Die Münzen sind für irgendjema­nd sehr wertvoll. Ich werde sie in meine Truhe tun.“

Bevor Jem in sein Zimmer ging, sah er noch einmal lange zum Radley-Grundstück hinüber. Er schien nachzudenk­en.

Zwei Tage später kam Dill an, umgeben von einem Gloriensch­ein: Er war ganz allein von Meridian nach Maycomb Junction gereist (dieser Bahnhof lag in Abbott County, und Maycomb Junction war nur eine Höflichkei­tsbezeichn­ung). Dort hatte ihn Miss Rachel in Maycombs einzigem Taxi abgeholt.

 ?? ??
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg