Zwischen Bonaparte und Chaplin
Wolodymyr Selenskyj ist schon jetzt der Mann des Jahres – aber als Kompetenzgenie gilt er in der Ukraine keineswegs
Wolodymyr Selenskyj hat keine Angst, sich zu wiederholen. Am Freitag stellte er sich wieder mit seinen engsten Mitarbeitern vor seinen Kiewer Amtssitz, wie in der Nacht auf den 26. Februar, als russische Stoßtrupps die Hauptstadt schon bedrängten. Damals redete der ukrainische Präsident 31 Sekunden in sein Handy: „Wir sind alle hier. Wir verteidigen unsere Unabhängigkeit und unser Land. Und das wird so bleiben.“Diesmal dauerte es 35 Sekunden: „Wir verteidigen die Ukraine schon hundert Tage. Und wir werden siegen.“
Selenskyj zelebriert seine Anwesenheit wie eine Heldentat. Und das mit Grund. Am 26. Februar schien Kiews Fall als Frage von Tagen, aus Russland kamen Meldungen, der ukrainische Präsident sei schon ins Ausland geflohen, aber die Asylangebote westlicher Regierungen lehnte er ab. Eine der ersten bösen Überraschungen für den Kreml, wo man kaum ukrainischen Widerstand erwartet hatte. Eine Überraschung auch für viele Ukrainer: Vor dem 24. Februar lag Selenskyjs Popularitätsrate bei 25,1 Prozent, drei Tage danach bei 91 Prozent.
Ein Narrativ, das funktioniert
Selenskyj ist der Mann des Jahres, im freien Westen, erst recht in der Ukraine. Auf Twitter folgen ihm 6,3 Millionen. Aber Kritiker machen sich Sorge um die ukrainische Demokratie unter Selenskyjs Kriegsrecht.
Der Kiewer Intelligenzija galt Selenskyj lange als Laienpolitiker mit zu wenig Distanz zum großen, feindlichen Nachbarn.
Der Präsident redet und redet, vor TV-Kameras, auf Großleinwänden vor Sicherheitsforen oder Filmfestspielen. Und – ganz systematisch – vor Parlamenten. In Brüssel, Washington, Berlin, Tokio oder Luxemburg. Die Kampagne soll in Afrika und Asien weitergehen.
Seine Botschaft ist einfach: Schon die ersten russischen Raketenangriffe verglich er mit dem Bombardement Kiews zu Beginn des hitlerdeutschen Einfalls 1941. Putin sei ein grausamer Eroberer, Russland wolle außer der Ukraine auch die pluralistische westliche Zivilisation zerstören. Also müssten die reichen Staaten Europas und Nordamerikas den tapferen ukrainischen Verteidigern der Demokratie und ihrer Werte Waffen liefern, bessere Waffen, mehr Waffen.
Seine Vergleiche sind manchmal schräg, er übertreibt. Aber sein Narrativ funktioniert. Auch weil sein Publikum schon Tausende Bilder
zerstörter ukrainischer Städte gesehen hat, russischer Panzer in ukrainischen Städten, fliehender, verletzter, getöteter ukrainischer Zivilisten …
Der Kiewer Intelligenzija galt Selenskyj lange als Laienpolitiker mit zu wenig Distanz zum großen, feindlichen Nachbarn. Tatsächlich war er jahrelang in Moskau aufgetreten. 2012, zwei Jahre vor der Annexion der Krim durch Russland, mimte er in der russisch-ukrainischen Komödie „Rschewski gegen Napoleon“gar einen infantilen Bonaparte, dessen Marsch auf den Ural an der eigenen Liebestollheit scheitert. Die Figur war so lammblöde, dass jetzt selbst die Kremlpropaganda nichts mit ihr anfangen kann.
Von 2015 bis 2019 spielte Selenskyj dann in der ukrainischen TV-Serie „Diener des Volkes“ einen jungen Geschichtslehrer, der zufällig Präsident wird und dem korrupten Establishment den Kampf ansagt. Dass Selenskyj unmittelbar danach selbst die Präsidentschaftswahlen gewann, wirkte irgendwie peinlich.
Aber Selenskyjs Helden, selbst sein Napoleon, waren sanfte Charaktere. Auch den Oberkommandierenden der ukrainischen Streitkräfte, vielleicht die Rolle seines Lebens, spielt er nicht wie einen Krieger, geschweige denn Feldherr.
Selenskyj ist leise, keiner, der droht oder auftrumpft wie sein Gegenüber Wladimir Putin. Aber seine Worte treffen. Ob sie das zerbombte Stadttheater von Mariupol gesehen hätten, fragte er das Publikum der Filmfestspiele von Cannes. „Es sieht übrigens fast so aus wie das Theater, wo Sie sich jetzt befinden … Auf dem Asphalt vor dem Theater standen zwei große, sehr deutlich erkennbare Worte geschrieben: ‚Kinder‘.“
In Selenskys Auftritten seien faktische und emotionale Elemente gut ausbalanciert, sagte der eigentlich oppositionell gesinnte Ex-Außenminister Pawlo Klimkin dem Portal nv.ua. Die Reden des Staatschefs würden die Methoden der zukünftigen Diplomatie verändern. Selenskyj ist Chefpropagandist und Beschaffer schwerer Waffen, das gestehen auch Militärs ein, die dem Ungedienten vorher skeptisch gegenüberstanden. „Er macht seine Sache gut“, sagt ein Kompaniechef. Doch wenn Selenskyj nicht da wäre, würde jemand anders es genauso gut machen. „Den Krieg gewinnen müssen wir.“
Aber dass er sich aus dem kriegerischen Tagesgeschäft heraushält, ist ihnen nur recht. Selenskyj gilt in der Ukraine keineswegs als Kompetenzgenie. Er war mit dem erklärten Ziel Präsident geworden, Frieden im Donbass zu schaffen. Ohne Erfolg. Und in den Sicherheitsorganen wird bitter darüber gescherzt, der erklärte Pazifist und seine Mannschaft hätten den Russen wiederholt enorme Zugeständnisse
gemacht, diese aber nach den ersten heimischen Protesten hastig verleugnet. Putin tobe auch deshalb.
„Niemand fragt, warum der Feind 20 Prozent der Ukraine besetzt hält, warum Cherson und Berdjansk so schnell gefallen sind“, sagt der Politologe Wadim Karasjew. „Es gibt keine Kritik, im täglichen Telemarathon treten nur regierungstreue Moderatoren auf.“Die keineswegs prorussischen TVSender von Ex-Präsident Petro Poroschenko sind teilweise abgeschaltet worden. „Eine Dummheit“, sagt Karasjews Kollege Ihor Rejterowitsch. „Die Ukraine verteidigt auf dem Schlachtfeld demokratische Werte“, sagt Karasjow, „aber sie muss darauf achten, dass diese auch unter dem Kriegsrecht funktionieren.“
Antiautokratisches Pathos
Laut Rejterowitsch plant Selenskyjs Mannschaft schon jetzt nach einem Friedensschluss vorgezogene Wahlen, um seine Dominanz auszunutzen. „Aber das wird im Rahmen des geltenden Rechts geschehen.“Der Staatschef sei kein Bonapartist.
Selenskyjs Pathos ist antiautokratisch, in mehreren Reden zitierte der frühere Komiker Charlie Chaplin und seinen Film „Der große Diktator“von 1940. „Da erlebte die Welt im Gegensatz zu seinem Widersacher auf den ersten Blick einen unauffälligen Burschen, der absolut nicht wie ein Held aussah.“Klingt, als rede Selenskyj auch über sich. „Aber es war ein Held.“Selenskyj wäre gerne wie Charly Chaplin.
Selenskyj ist leise, keiner, der droht oder auftrumpft wie sein Gegenüber Wladimir Putin.