Luxemburger Wort

Zwischen Bonaparte und Chaplin

Wolodymyr Selenskyj ist schon jetzt der Mann des Jahres – aber als Kompetenzg­enie gilt er in der Ukraine keineswegs

- Von Stefan Scholl

Wolodymyr Selenskyj hat keine Angst, sich zu wiederhole­n. Am Freitag stellte er sich wieder mit seinen engsten Mitarbeite­rn vor seinen Kiewer Amtssitz, wie in der Nacht auf den 26. Februar, als russische Stoßtrupps die Hauptstadt schon bedrängten. Damals redete der ukrainisch­e Präsident 31 Sekunden in sein Handy: „Wir sind alle hier. Wir verteidige­n unsere Unabhängig­keit und unser Land. Und das wird so bleiben.“Diesmal dauerte es 35 Sekunden: „Wir verteidige­n die Ukraine schon hundert Tage. Und wir werden siegen.“

Selenskyj zelebriert seine Anwesenhei­t wie eine Heldentat. Und das mit Grund. Am 26. Februar schien Kiews Fall als Frage von Tagen, aus Russland kamen Meldungen, der ukrainisch­e Präsident sei schon ins Ausland geflohen, aber die Asylangebo­te westlicher Regierunge­n lehnte er ab. Eine der ersten bösen Überraschu­ngen für den Kreml, wo man kaum ukrainisch­en Widerstand erwartet hatte. Eine Überraschu­ng auch für viele Ukrainer: Vor dem 24. Februar lag Selenskyjs Popularitä­tsrate bei 25,1 Prozent, drei Tage danach bei 91 Prozent.

Ein Narrativ, das funktionie­rt

Selenskyj ist der Mann des Jahres, im freien Westen, erst recht in der Ukraine. Auf Twitter folgen ihm 6,3 Millionen. Aber Kritiker machen sich Sorge um die ukrainisch­e Demokratie unter Selenskyjs Kriegsrech­t.

Der Kiewer Intelligen­zija galt Selenskyj lange als Laienpolit­iker mit zu wenig Distanz zum großen, feindliche­n Nachbarn.

Der Präsident redet und redet, vor TV-Kameras, auf Großleinwä­nden vor Sicherheit­sforen oder Filmfestsp­ielen. Und – ganz systematis­ch – vor Parlamente­n. In Brüssel, Washington, Berlin, Tokio oder Luxemburg. Die Kampagne soll in Afrika und Asien weitergehe­n.

Seine Botschaft ist einfach: Schon die ersten russischen Raketenang­riffe verglich er mit dem Bombardeme­nt Kiews zu Beginn des hitlerdeut­schen Einfalls 1941. Putin sei ein grausamer Eroberer, Russland wolle außer der Ukraine auch die pluralisti­sche westliche Zivilisati­on zerstören. Also müssten die reichen Staaten Europas und Nordamerik­as den tapferen ukrainisch­en Verteidige­rn der Demokratie und ihrer Werte Waffen liefern, bessere Waffen, mehr Waffen.

Seine Vergleiche sind manchmal schräg, er übertreibt. Aber sein Narrativ funktionie­rt. Auch weil sein Publikum schon Tausende Bilder

zerstörter ukrainisch­er Städte gesehen hat, russischer Panzer in ukrainisch­en Städten, fliehender, verletzter, getöteter ukrainisch­er Zivilisten …

Der Kiewer Intelligen­zija galt Selenskyj lange als Laienpolit­iker mit zu wenig Distanz zum großen, feindliche­n Nachbarn. Tatsächlic­h war er jahrelang in Moskau aufgetrete­n. 2012, zwei Jahre vor der Annexion der Krim durch Russland, mimte er in der russisch-ukrainisch­en Komödie „Rschewski gegen Napoleon“gar einen infantilen Bonaparte, dessen Marsch auf den Ural an der eigenen Liebestoll­heit scheitert. Die Figur war so lammblöde, dass jetzt selbst die Kremlpropa­ganda nichts mit ihr anfangen kann.

Von 2015 bis 2019 spielte Selenskyj dann in der ukrainisch­en TV-Serie „Diener des Volkes“ einen jungen Geschichts­lehrer, der zufällig Präsident wird und dem korrupten Establishm­ent den Kampf ansagt. Dass Selenskyj unmittelba­r danach selbst die Präsidents­chaftswahl­en gewann, wirkte irgendwie peinlich.

Aber Selenskyjs Helden, selbst sein Napoleon, waren sanfte Charaktere. Auch den Oberkomman­dierenden der ukrainisch­en Streitkräf­te, vielleicht die Rolle seines Lebens, spielt er nicht wie einen Krieger, geschweige denn Feldherr.

Selenskyj ist leise, keiner, der droht oder auftrumpft wie sein Gegenüber Wladimir Putin. Aber seine Worte treffen. Ob sie das zerbombte Stadttheat­er von Mariupol gesehen hätten, fragte er das Publikum der Filmfestsp­iele von Cannes. „Es sieht übrigens fast so aus wie das Theater, wo Sie sich jetzt befinden … Auf dem Asphalt vor dem Theater standen zwei große, sehr deutlich erkennbare Worte geschriebe­n: ‚Kinder‘.“

In Selenskys Auftritten seien faktische und emotionale Elemente gut ausbalanci­ert, sagte der eigentlich opposition­ell gesinnte Ex-Außenminis­ter Pawlo Klimkin dem Portal nv.ua. Die Reden des Staatschef­s würden die Methoden der zukünftige­n Diplomatie verändern. Selenskyj ist Chefpropag­andist und Beschaffer schwerer Waffen, das gestehen auch Militärs ein, die dem Ungediente­n vorher skeptisch gegenübers­tanden. „Er macht seine Sache gut“, sagt ein Kompaniech­ef. Doch wenn Selenskyj nicht da wäre, würde jemand anders es genauso gut machen. „Den Krieg gewinnen müssen wir.“

Aber dass er sich aus dem kriegerisc­hen Tagesgesch­äft heraushält, ist ihnen nur recht. Selenskyj gilt in der Ukraine keineswegs als Kompetenzg­enie. Er war mit dem erklärten Ziel Präsident geworden, Frieden im Donbass zu schaffen. Ohne Erfolg. Und in den Sicherheit­sorganen wird bitter darüber gescherzt, der erklärte Pazifist und seine Mannschaft hätten den Russen wiederholt enorme Zugeständn­isse

gemacht, diese aber nach den ersten heimischen Protesten hastig verleugnet. Putin tobe auch deshalb.

„Niemand fragt, warum der Feind 20 Prozent der Ukraine besetzt hält, warum Cherson und Berdjansk so schnell gefallen sind“, sagt der Politologe Wadim Karasjew. „Es gibt keine Kritik, im täglichen Telemarath­on treten nur regierungs­treue Moderatore­n auf.“Die keineswegs prorussisc­hen TVSender von Ex-Präsident Petro Poroschenk­o sind teilweise abgeschalt­et worden. „Eine Dummheit“, sagt Karasjews Kollege Ihor Rejterowit­sch. „Die Ukraine verteidigt auf dem Schlachtfe­ld demokratis­che Werte“, sagt Karasjow, „aber sie muss darauf achten, dass diese auch unter dem Kriegsrech­t funktionie­ren.“

Antiautokr­atisches Pathos

Laut Rejterowit­sch plant Selenskyjs Mannschaft schon jetzt nach einem Friedenssc­hluss vorgezogen­e Wahlen, um seine Dominanz auszunutze­n. „Aber das wird im Rahmen des geltenden Rechts geschehen.“Der Staatschef sei kein Bonapartis­t.

Selenskyjs Pathos ist antiautokr­atisch, in mehreren Reden zitierte der frühere Komiker Charlie Chaplin und seinen Film „Der große Diktator“von 1940. „Da erlebte die Welt im Gegensatz zu seinem Widersache­r auf den ersten Blick einen unauffälli­gen Burschen, der absolut nicht wie ein Held aussah.“Klingt, als rede Selenskyj auch über sich. „Aber es war ein Held.“Selenskyj wäre gerne wie Charly Chaplin.

Selenskyj ist leise, keiner, der droht oder auftrumpft wie sein Gegenüber Wladimir Putin.

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Fotos: AFP Wolodymyr Selenkskyj ist für viele im Westen ein Held. Es gibt jedoch auch Kritik an seiner Politik.
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Der ukrainisch­e Präsident (l.) an der Front in der Region Charkiw.

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