Luxemburger Wort

Nach dem Lockdown ist vor dem Lockdown

Sowohl in Shanghai als auch in Peking verschärfe­n die Behörden die Corona-Maßnahmen erneut

- Von Fabian Kretschmer (Peking)

Die neue Normalität war in Shanghai nur eine fragile Illusion: Seit Ende der Woche berichten unzählige Bewohner davon, dass sie mitten in der Nacht von Mitarbeite­rn in Seuchensch­utzanzügen aus ihren Betten gescheucht wurden, um sich für spontan einberufen­e Massentest­s anzustelle­n. „Die Freiheit war nur kurz“, sagt ein Amerikaner in Shanghai, der nach dem nächtliche­n Überfall der Gesundheit­sbehörden die Hiobsbotsc­haft erhielt: Nach über zwei Monaten Lockdown wird er nun wieder für mindestens vier Tage in seine Wohnung gesperrt.

Die erneuten Einschränk­ungen schmerzen umso mehr, als dass die Hoffnung auf einen normalen Alltag erst vor Kurzem genährt wurde: Der Feierabend­verkehr füllte sich wieder, die Läden öffneten ihre Pforten. Es schien, als ob Shanghai nach einem zweimonati­gen Lockdown allmählich wieder zur Normalität findet.

Panikkäufe

Doch nur eine Woche nach der vermeintli­chen Öffnung hat die chinesisch­e Metropole nun wiederholt flächendec­kende Ausgangssp­erren angekündig­t: Über das Wochenende sollen acht Bezirke durchgetes­tet werden und deren 15 Millionen Bewohner nicht mehr vor die Haustür treten. Ausgelöst wurde die Entscheidu­ng laut offizielle­n Zahlen lediglich durch elf

Infektione­n am Donnerstag. In der bevölkerun­gsreichste­n Stadt des Landes lösten die Maßnahmen der Autoritäte­n flächendec­kende Panikkäufe aus. In mehreren Stadtteile­n wurden die Gemüserega­le vollständi­g leergekauf­t. Es ist, als befindet sich Shanghai wieder am selben Punkt wie Ende März: in vollständi­ger Ungewisshe­it, ob man morgen bereits eingesperr­t ist oder nicht.

Und auch in Peking haben die Behörden die Einschränk­ungen wieder angezogen: In Chaoyang, immerhin der bevölkerun­gsreichste Bezirk der Hauptstadt, müssen sämtliche Bars nur drei Tage nach ihrer Öffnung wieder schließen.

Dort hat eine Person nach einem Bar-Besuch laut Angaben der Behörden insgesamt 29 Menschen infiziert, die insgesamt in zwölf verschiede­nen Bezirken leben. Seither wurden mutmaßlich hunderttau­sende Bewohner in ihre Wohnanlage­n gesperrt, da sie als „enge Kontaktper­sonen“gelten. „Es wird daran erinnert, dass es immer noch versteckte Infektions­quellen in der Gesellscha­ft gibt, die nicht auf die leichte Schulter genommen werden sollten“, heißt es in einer nüchternen Meldung der Staatsmedi­en.

Dass die „Null-Covid“-Strategie keine nachhaltig­e Perspektiv­e bereithält, scheint immer offensicht­licher. In Dandong, der nordostchi­nesischen Grenzstadt, haben die Behörden nun gewarnt, dass angeblich mit dem Wind aus Nordkorea Erreger des Virus nach China kommen könnten.

Dennoch deutet alles darauf hin, dass Pekings Parteiführ­ung an seiner Nulltolera­nzstrategi­e festhalten wird – und zwar weit über 2023 hinaus: In jeder größeren Stadt gehören PCR-Massentest­s derzeit zum Alltag, allein in Shanghai wurden über 15 000 Teststatio­nen installier­t. Die japanische Investment­bank Nomura hat ausgerechn­et, dass die Infrastruk­tur zum Testen landesweit bis zu 1,7 Prozent des gesamten Bruttoinla­ndsprodukt­s ausmachen könnte.

Chinas führende Virologen erklären sich seit Längerem bereits nicht mehr gegenüber ausländisc­hen Journalist­en – zumindest, wenn das Aufnahmege­rät läuft. Doch selbst in Hintergrun­dgespräche­n in Peking wird mit einem geradezu überheblic­hen Selbstbewu­sstsein die eigene „Null-Covid“-Strategie vertreten, als würde es sich dabei um den einzig korrekten Weg handeln. Oft schwingt bei den Aussagen chinesisch­er Experten auch der Vorwurf mit, dass die restliche Welt viel zu wenig tut, Covid einzudämme­n – während die Volksrepub­lik China als einziger Staat den „Krieg gegen das Virus“weiter aufnimmt.

Doch die offensicht­lichen Schwächen der chinesisch­en Strategie liegen auf der Hand. Noch immer sind rund 100 Millionen Einwohner

im Land gar nicht oder unzureiche­nd geimpft, das absolute Gros davon sind Senioren über 70 Jahre.

Informatio­nsvakuum

Paradoxerw­eise hat ausgerechn­et die strikte staatliche Zensur, die keinerlei Debatten über Gesundheit­srisiken zulässt, ein Informatio­nsvakuum kreiert, das allerlei Platz für wissenscha­ftlich unbegründe­te Theorien zuließ. In den sozialen Medien in China kursieren unzählige Gerüchte, dass die heimischen Vakzine Diabetes oder Leukämie auslösen könnten. Insbesonde­re die Alten, die sich nicht über ihren Arbeitgebe­r oder Parteiorga­nisationen zum Impfen überreden lassen können, hegen die größte Skepsis. Nun haben dutzende chinesisch­e Städte reagiert und versuchen diese mit freien Versicheru­ngen zu ködern. Diese zahlen den Betroffene­n umgerechne­t bis zu 70 000 Euro aus, sollten sie aufgrund einer Impfdosis gesundheit­liche Probleme bekommen.

Selbst die scheidende Verwaltung­schefin Hongkongs hat erstmals zugegeben, dass es wohl keine baldige Grenzöffnu­ng zum chinesisch­en Festland gegen wird. Dies sei „nicht möglich“, sagte Carrie Lam bei ihrer letzten Pressekonf­erenz. Denn im Gegensatz zu Shanghai hat Hongkong vor einem radikalen Lockdown zurückgesc­hreckt – und sich unlängst von der „Null-Covid“-Doktrin verabschie­det.

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Foto: AFP Ein Arbeiter sitzt neben einem Zaun, der errichtet wurde, um ein Wohngebiet im Huangpu-Bezirk von Shanghai abzusperre­n.

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