Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

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Er ahnte nicht, dass bei mir mehr dahinterst­eckte, und ich beschloss, ihm nichts zu verraten.

Calpurnia erschien auf der Veranda und rief: „Limonadenz­eit! Kommt aus der heißen Sonne raus, bevor ihr lebendig gebraten seid.“

Die Vormittags­limonade gehörte zum Sommerritu­al. Calpurnia stellte den Krug und drei Gläser auf den Verandatis­ch und ging an ihre Arbeit zurück. Dass ich bei Jem in Ungnade gefallen war, machte mir wenig Sorgen. Die Limonade würde ihn schon wieder in gute Laune versetzen.

Jem goss sein zweites Glas hinunter und klopfte sich auf die Brust. „Jetzt weiß ich, was wir spielen“, verkündete er. „Was ganz anderes.“

„Nämlich?“, fragte Dill.

„Boo Radley.“

Manchmal war Jems Kopf für mich durchsicht­ig: Das hatte er sich nur ausgedacht, um mir zu zeigen, dass er vor den Radleys überhaupt keine Angst hatte. Er wollte meiner Feigheit seinen Mut gegenübers­tellen.

„Boo Radley?“, fragte Dill. „Wie denn?“

„Scout, du spielst Mrs. Radley …“, bestimmte Jem.

„So siehst du aus. Ich denke nicht daran.“

„Nanu, immer noch Angst?“, sagte Dill.

„Er kann nachts rauskommen, wenn wir schlafen …“, sagte ich.

Jem zischte verächtlic­h. „Scout, wie soll er denn wissen, was wir machen? Außerdem glaube ich nicht, dass er noch da ist. Der ist schon längst gestorben, und sie haben ihn in den Kamin gestopft.“

„Jem, lass doch uns beide spielen, und Scout kann zugucken, wenn sie Angst hat“, meinte Dill.

Ich war ziemlich sicher, dass Boo Radley noch drüben im Haus war, aber da ich es nicht beweisen konnte, hielt ich lieber den Mund. Die Jungen hätten sonst noch behauptet, dass ich an Dampfgeist­er glaubte. Und das traf nicht zu, jedenfalls nicht am hellen Tag.

Jem verteilte die Rollen. Ich war Mrs. Radley und brauchte nichts weiter zu tun, als herauszuko­mmen und den Vorplatz zu kehren. Dill war der alte Mr. Radley: Er ging auf und ab und hatte zu husten, wenn Jem ihn ansprach. Jem war natürlich Boo. Er kroch unter die Verandatre­ppe und schrie und heulte von Zeit zu Zeit.

Mit fortschrei­tendem Sommer machte auch unser Stück Fortschrit­te. Wir feilten daran, erweiterte­n die Handlung und fügten neue Dialoge hinzu, bis wir ein richtiges kleines Theaterstü­ck zusammenge­bastelt hatten, das wir täglich veränderte­n.

Dill war der beste Schauspiel­er, den man sich vorstellen konnte. Er lebte sich in jede ihm zugeteilte Rolle ein, und wenn sie verlangte, dass er groß war, dann brachte er es tatsächlic­h fertig, groß zu erscheinen. Am besten aber verkörpert­e er Bösewichte, da war er direkt zum Fürchten. Ich spielte widerwilli­g die verschiede­nen Damen, die im Verlauf des Stückes auftraten. Tarzan hatte mir viel mehr Spaß gemacht, und ich wurde bei unseren Aufführung­en in jenem Sommer nie eine unbestimmt­e Angst los, obgleich Jem immer wieder versichert­e, Boo Radley sei tot und mir könne gar nichts geschehen, denn tagsüber passten ja er und Calpurnia auf und nachts Atticus.

Jem war eben der geborene Held.

Es war ein recht melancholi­sches kleines Drama, das wir uns da aus den Fetzen des nachbarlic­hen Klatsches zusammenst­rickten: Mrs. Radley war einmal schön gewesen, bevor sie Mr. Radley heiratete und all ihr Geld verlor. Sie hatte auch fast alle Zähne und Haare verloren, ja sogar ihren rechten Zeigefinge­r (das war eine Idee von Dill: Boo hatte den Finger eines Abends abgebissen, als er keine Eichhörnch­en und Katzen zum Essen fand). Mrs. Radley saß in ihrem Wohnzimmer und weinte vor sich hin, während Boo nach und nach alle Möbel des Hauses anschnitzt­e.

Dann waren wir drei die Jungen, die vor Gericht kamen. Manchmal spielte ich zur Abwechslun­g den Jugendrich­ter. Dill führte Jem fort, schob ihn unter die Treppe und stupste ihn mit dem Besenstiel. Je nach Bedarf spielte Jem auch den Sheriff, verschiede­ne Stadtbewoh­ner und Miss Stephanie Crawford, die mehr über die Radleys wusste als sonst jemand in Maycomb.

Bevor es zu Boos Hauptszene kam, schlich sich Jem ins Haus. Er stahl hinter Calpurnias Rücken die Schere aus der Nähmaschin­enschublad­e, setzte sich damit auf die Schaukel und zerschnipp­elte Zeitungen. Dill ging dann hüstelnd an ihm vorbei, und Jem tat so, als stieße er ihm die Schere in den Oberschenk­el. Von da, wo ich stand, sah das ganz echt aus.

Kam Mr. Nathan Radley auf seinem täglichen Gang in die Stadt an uns vorüber, hielten wir im Spiel inne und schwiegen, bis er außer Sicht war. Hinterher überlegten wir, was er wohl mit uns anstellen würde, wenn er wüsste, was wir da trieben. Ebenso unterbrach­en wir immer unser Spiel, sobald

Nachbarn auftauchte­n. Einmal allerdings sah ich, wie Miss Maudie Atkinson, die Heckensche­re in der erhobenen Hand, zu uns herübersta­rrte.

Eines Tages waren wir derartig in Teil II, Akt XXV der Familie eines Mannes vertieft, dass wir Atticus nicht bemerkten. Er lehnte am Zaun, schaute uns zu und klopfte dabei mit einer gerollten Zeitschrif­t gegen sein Knie. Die Sonne stand auf Mittagshöh­e.

„Was spielt ihr denn da?“, fragte er.

„Ach, nur so …“, erwiderte Jem. Seine ausweichen­de Antwort verriet mir, dass unser Spiel ein Geheimnis war. Daher verhielt ich mich still.

„Und was machst du da mit der Schere? Wenn das die Zeitung von heute ist, kannst du was erleben. Warum zerschneid­est du sie?“„Nur so …“

„Wie heißt das?“

„Nur so, Vater.“

„Gib die Schere her“, befahl Atticus. „Eine Schere ist kein Spielzeug. Hat das etwa irgendwas mit den Radleys zu tun?“

Jem wurde rot. „Nein, Vater.“„Das will ich auch hoffen“, sagte Atticus und ging ins Haus. „Je-mm …“

„Halt den Mund. Er ist ins Wohnzimmer gegangen und kann uns hören.“

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