Wer die Nachtigall stört
16
Er ahnte nicht, dass bei mir mehr dahintersteckte, und ich beschloss, ihm nichts zu verraten.
Calpurnia erschien auf der Veranda und rief: „Limonadenzeit! Kommt aus der heißen Sonne raus, bevor ihr lebendig gebraten seid.“
Die Vormittagslimonade gehörte zum Sommerritual. Calpurnia stellte den Krug und drei Gläser auf den Verandatisch und ging an ihre Arbeit zurück. Dass ich bei Jem in Ungnade gefallen war, machte mir wenig Sorgen. Die Limonade würde ihn schon wieder in gute Laune versetzen.
Jem goss sein zweites Glas hinunter und klopfte sich auf die Brust. „Jetzt weiß ich, was wir spielen“, verkündete er. „Was ganz anderes.“
„Nämlich?“, fragte Dill.
„Boo Radley.“
Manchmal war Jems Kopf für mich durchsichtig: Das hatte er sich nur ausgedacht, um mir zu zeigen, dass er vor den Radleys überhaupt keine Angst hatte. Er wollte meiner Feigheit seinen Mut gegenüberstellen.
„Boo Radley?“, fragte Dill. „Wie denn?“
„Scout, du spielst Mrs. Radley …“, bestimmte Jem.
„So siehst du aus. Ich denke nicht daran.“
„Nanu, immer noch Angst?“, sagte Dill.
„Er kann nachts rauskommen, wenn wir schlafen …“, sagte ich.
Jem zischte verächtlich. „Scout, wie soll er denn wissen, was wir machen? Außerdem glaube ich nicht, dass er noch da ist. Der ist schon längst gestorben, und sie haben ihn in den Kamin gestopft.“
„Jem, lass doch uns beide spielen, und Scout kann zugucken, wenn sie Angst hat“, meinte Dill.
Ich war ziemlich sicher, dass Boo Radley noch drüben im Haus war, aber da ich es nicht beweisen konnte, hielt ich lieber den Mund. Die Jungen hätten sonst noch behauptet, dass ich an Dampfgeister glaubte. Und das traf nicht zu, jedenfalls nicht am hellen Tag.
Jem verteilte die Rollen. Ich war Mrs. Radley und brauchte nichts weiter zu tun, als herauszukommen und den Vorplatz zu kehren. Dill war der alte Mr. Radley: Er ging auf und ab und hatte zu husten, wenn Jem ihn ansprach. Jem war natürlich Boo. Er kroch unter die Verandatreppe und schrie und heulte von Zeit zu Zeit.
Mit fortschreitendem Sommer machte auch unser Stück Fortschritte. Wir feilten daran, erweiterten die Handlung und fügten neue Dialoge hinzu, bis wir ein richtiges kleines Theaterstück zusammengebastelt hatten, das wir täglich veränderten.
Dill war der beste Schauspieler, den man sich vorstellen konnte. Er lebte sich in jede ihm zugeteilte Rolle ein, und wenn sie verlangte, dass er groß war, dann brachte er es tatsächlich fertig, groß zu erscheinen. Am besten aber verkörperte er Bösewichte, da war er direkt zum Fürchten. Ich spielte widerwillig die verschiedenen Damen, die im Verlauf des Stückes auftraten. Tarzan hatte mir viel mehr Spaß gemacht, und ich wurde bei unseren Aufführungen in jenem Sommer nie eine unbestimmte Angst los, obgleich Jem immer wieder versicherte, Boo Radley sei tot und mir könne gar nichts geschehen, denn tagsüber passten ja er und Calpurnia auf und nachts Atticus.
Jem war eben der geborene Held.
Es war ein recht melancholisches kleines Drama, das wir uns da aus den Fetzen des nachbarlichen Klatsches zusammenstrickten: Mrs. Radley war einmal schön gewesen, bevor sie Mr. Radley heiratete und all ihr Geld verlor. Sie hatte auch fast alle Zähne und Haare verloren, ja sogar ihren rechten Zeigefinger (das war eine Idee von Dill: Boo hatte den Finger eines Abends abgebissen, als er keine Eichhörnchen und Katzen zum Essen fand). Mrs. Radley saß in ihrem Wohnzimmer und weinte vor sich hin, während Boo nach und nach alle Möbel des Hauses anschnitzte.
Dann waren wir drei die Jungen, die vor Gericht kamen. Manchmal spielte ich zur Abwechslung den Jugendrichter. Dill führte Jem fort, schob ihn unter die Treppe und stupste ihn mit dem Besenstiel. Je nach Bedarf spielte Jem auch den Sheriff, verschiedene Stadtbewohner und Miss Stephanie Crawford, die mehr über die Radleys wusste als sonst jemand in Maycomb.
Bevor es zu Boos Hauptszene kam, schlich sich Jem ins Haus. Er stahl hinter Calpurnias Rücken die Schere aus der Nähmaschinenschublade, setzte sich damit auf die Schaukel und zerschnippelte Zeitungen. Dill ging dann hüstelnd an ihm vorbei, und Jem tat so, als stieße er ihm die Schere in den Oberschenkel. Von da, wo ich stand, sah das ganz echt aus.
Kam Mr. Nathan Radley auf seinem täglichen Gang in die Stadt an uns vorüber, hielten wir im Spiel inne und schwiegen, bis er außer Sicht war. Hinterher überlegten wir, was er wohl mit uns anstellen würde, wenn er wüsste, was wir da trieben. Ebenso unterbrachen wir immer unser Spiel, sobald
Nachbarn auftauchten. Einmal allerdings sah ich, wie Miss Maudie Atkinson, die Heckenschere in der erhobenen Hand, zu uns herüberstarrte.
Eines Tages waren wir derartig in Teil II, Akt XXV der Familie eines Mannes vertieft, dass wir Atticus nicht bemerkten. Er lehnte am Zaun, schaute uns zu und klopfte dabei mit einer gerollten Zeitschrift gegen sein Knie. Die Sonne stand auf Mittagshöhe.
„Was spielt ihr denn da?“, fragte er.
„Ach, nur so …“, erwiderte Jem. Seine ausweichende Antwort verriet mir, dass unser Spiel ein Geheimnis war. Daher verhielt ich mich still.
„Und was machst du da mit der Schere? Wenn das die Zeitung von heute ist, kannst du was erleben. Warum zerschneidest du sie?“„Nur so …“
„Wie heißt das?“
„Nur so, Vater.“
„Gib die Schere her“, befahl Atticus. „Eine Schere ist kein Spielzeug. Hat das etwa irgendwas mit den Radleys zu tun?“
Jem wurde rot. „Nein, Vater.“„Das will ich auch hoffen“, sagte Atticus und ging ins Haus. „Je-mm …“
„Halt den Mund. Er ist ins Wohnzimmer gegangen und kann uns hören.“