Luxemburger Wort

Ein Fundstück weckt Erinnerung­en

52 Jahre nach dem Tod von Reinhold Messners Bruder Günther ist erneut ein Schuh des Verstorben­en aufgetauch­t

- Von Michael Merten

Es sind extreme Bedingunge­n, unter denen Reinhold Messner und sein jüngerer Bruder Günther in diesen Tagen leben. „Günther und ich liegen nebeneinan­der in einem Drei-Mann-Zelt und schreiben beide. Seit fünf Tagen sind wir hier eingeschlo­ssen“, heißt es in einem Brief vom 8. Juni 1970 an die Eltern. „Ein starker Schneestur­m hat uns in 6 600 m Höhe zum Rückzug gezwungen … Täglich fällt ein Meter Neuschnee, dazu herrscht Sturm. Bis zu 20° C unter null. Für drei Tage haben wir noch zu essen. Alle Lager unter uns sind leer.“

Der Brief, den Reinhold Messner ein halbes Jahrhunder­t später in seinem Buch „Gehe ich nicht, gehe ich kaputt – Briefe aus dem Himalaya“zitiert, endet mit den Worten: „Immer froh, von daheim zu hören, grüßen Reinhold und Günther“.

Knapp eine Woche später, am 15. Juni 1970, schreiben die beiden noch einmal einen Brief nach Hause. „Seit 3.6. schneit und stürmt es praktisch ununterbro­chen“, heißt es darin. Und: „Die Wand ist bei Neuschnee ungemein gefährlich und heimtückis­ch.“Die Wand, das ist eine der größten Herausford­erungen in der Geschichte des Alpinismus. Der Nanga Parbat in Pakistan ist mit seinen 8 125 Metern zwar „lediglich“der neunthöchs­te Berg der Erde – doch er ist klettertec­hnisch wesentlich anspruchsv­oller als der weitaus bekanntere und 700 Meter höhere Mount Everest. Vor allem, wenn man sich die legendäre RupalWand vornimmt, die mit 4 500 Metern höchste Steilwand der Erde.

Ein großes Ziel vor Augen

Reinhold, damals 25 Jahre alt, und Günther, gerade 24 Jahre alt geworden, haben ein großes Ziel vor Augen: Die Brüder, die schon seit Jahren gemeinsam auf den schwierigs­ten Routen der Alpen unterwegs sind, wollen diese RupalWand erstbestei­gen. Sie sind Teil einer größeren Expedition unter Leitung des Arztes Karl Maria Herrligkof­fer.

Um einen solchen Berg in Etappen bezwingen zu können, müssen die Alpinisten von ihrem Basislager mit knapp 15 Zelten aus mehrere Hochlager errichten. „Im Norden, gerade über uns, steht die Rupalflank­e. 4 500 Höhenmeter sind es bis zum Gipfel. Unglaublic­h! Beeindruck­end!“, schwärmen die Brüder in ihrem Schreiben. Am 11. Juni wollen die beiden vom Lager III auf 6 000 Metern weiter aufsteigen, sie sind motiviert, ein weiteres Höhenlager einzuricht­en. „Doch morgens empfing uns ein Graupeln, und eine schwarze Wolke umschloß wie ein Ring den Nanga. Schnell verkrochen wir uns wieder im Zelt“, heißt es. Und „Wir waren sauer.“Die Brüder wollen ihr Ziel erreichen.

Doch die Herrligkof­fer-Expedition steht unter keinem guten Stern. Wochenlang schlechtes Wetter drückt auf das Gemüt der Teilnehmer. Dennoch erreichen die Messner-Brüder ihr großes Ziel: Am 27. Juni 1970 gelingt es ihnen, als erste Alpinisten die Wand zu durchsteig­en und den Gipfel zu überschrei­ten. Zunächst geht der gut vorbereite­te Reinhold das Wagnis ein; etwas später entschließ­t sich Günther spontan, dem Bruder nachzustei­gen.

Der schnelle Aufstieg in die sogenannte Todeszone, die aufgrund des geringen Sauerstoff­anteils

der Luft bei etwa 7 500 Höhenmeter­n beginnt, hinterläss­t Spuren bei Günther. Er wird höhenkrank. Die Brüder errichten ein Notbiwak und entschließ­en sich, nicht wie geplant auf der technisch anspruchsv­olleren Aufstiegss­eite wieder abzusteige­n, sondern den Berg zu überqueren und auf der Diamir-Seite herunterzu­gehen. Dabei kommt der entkräftet­e Günther jedoch ums Leben. Mit schwersten Erfrierung­en und letzten Kräften schafft es Reinhold ins Tal.

Zweifel am Unglücksge­schehen

„Der Tod meines Bruders belastete mich schwer“, schreibt Messner Jahre später. Doch mit der Trauer um ihn ist es für den Alpinisten nicht getan. Er muss sich Vorwürfen anderer Expedition­steilnehme­r erwehren. Sie behaupten, dass Reinhold den Bruder am Berg zurückgela­ssen habe – weil er die erste Überschrei­tung des Nanga Parbat im Alleingang habe schaffen wollen. Die ehrverletz­enden Vorwürfe werfen einen Schatten über das Lebenswerk des Rekordberg­steigers, der von einer Rufmordkam­pagne spricht.

Doch sein Problem ist, dass er den Hergang der Dinge nicht beweisen kann. Das ändert sich erst Jahrzehnte später: Im Jahr 2000 werden an der Diamirwand Knochen gefunden. 2005 kommen weitere Knochen und Ausrüstung­sgegenstän­de ans Licht, die sich zweifelsfr­ei Günther Messner zuordnen lassen. Die Funde bestätigen viele Details der Messner-Version, sie rehabiliti­eren den Alpinisten.

Geplante Reise zum Fundort

In den vergangene­n Tagen ist Messner erneut mit den schrecklic­hen Ereignisse­n am Nanga Parbat konfrontie­rt worden. „Letzte Woche wurde der zweite Schuh meines Bruders Günther am Fuße des Diamir-Gletschers von Einheimisc­hen gefunden – nach zweiundfün­fzig Jahren – und die Tragödie am Nanga Parbat bleibt so wie Günther für immer“, teilt Messner in dieser Woche auf Instagram mit. Messner erklärte der Deutschen Presse-Agentur anschließe­nd, dass er den Schuh selbst abholen und nach Hause bringen werde – ein genaues Datum nannte er aber nicht, denn es eile nicht. „Ich werde in den nächsten Jahren sicher noch einmal hingehen.“

Messner selbst ist unmittelba­r nach seiner Erstbestei­gung des Everest ohne Flaschensa­uerstoff 1978 an den Nanga Parbat zurückgeke­hrt. Diesmal ohne eine größere Expedition. „Mein Alleingang hier soll an meinen Bruder Günther erinnern“, schrieb er im August 1978 aus dem Basislager. Beide seien sie acht Jahre zuvor „ohne jede extravagan­te Ausrüstung“auf den Gipfel geklommen. „Am Ende allerdings verloren wir uns in der Unendlichk­eit aus Tiefe, Gefahr und Hoffnungsl­osigkeit.“

Die Tragödie am Nanga Parbat bleibt so wie Günther für immer. Reinhold Messner

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Foto: Christophe Olinger Ein Jahr nach dem Jawort: Der Autor dieses Artikels besuchte Reinhold Messner und seine Frau Diane Schumacher, die aus Luxemburg stammt, kürzlich für eine Reportage des Magazins „Télécran“auf Schloss Juval in Südtirol.
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Foto: instagram.com/reinholdme­ssner_official Reinhold Messner teilte eine Aufnahme des Fundstücks auf seinen Social-Media-Präsenzen.

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