Ein Fundstück weckt Erinnerungen
52 Jahre nach dem Tod von Reinhold Messners Bruder Günther ist erneut ein Schuh des Verstorbenen aufgetaucht
Es sind extreme Bedingungen, unter denen Reinhold Messner und sein jüngerer Bruder Günther in diesen Tagen leben. „Günther und ich liegen nebeneinander in einem Drei-Mann-Zelt und schreiben beide. Seit fünf Tagen sind wir hier eingeschlossen“, heißt es in einem Brief vom 8. Juni 1970 an die Eltern. „Ein starker Schneesturm hat uns in 6 600 m Höhe zum Rückzug gezwungen … Täglich fällt ein Meter Neuschnee, dazu herrscht Sturm. Bis zu 20° C unter null. Für drei Tage haben wir noch zu essen. Alle Lager unter uns sind leer.“
Der Brief, den Reinhold Messner ein halbes Jahrhundert später in seinem Buch „Gehe ich nicht, gehe ich kaputt – Briefe aus dem Himalaya“zitiert, endet mit den Worten: „Immer froh, von daheim zu hören, grüßen Reinhold und Günther“.
Knapp eine Woche später, am 15. Juni 1970, schreiben die beiden noch einmal einen Brief nach Hause. „Seit 3.6. schneit und stürmt es praktisch ununterbrochen“, heißt es darin. Und: „Die Wand ist bei Neuschnee ungemein gefährlich und heimtückisch.“Die Wand, das ist eine der größten Herausforderungen in der Geschichte des Alpinismus. Der Nanga Parbat in Pakistan ist mit seinen 8 125 Metern zwar „lediglich“der neunthöchste Berg der Erde – doch er ist klettertechnisch wesentlich anspruchsvoller als der weitaus bekanntere und 700 Meter höhere Mount Everest. Vor allem, wenn man sich die legendäre RupalWand vornimmt, die mit 4 500 Metern höchste Steilwand der Erde.
Ein großes Ziel vor Augen
Reinhold, damals 25 Jahre alt, und Günther, gerade 24 Jahre alt geworden, haben ein großes Ziel vor Augen: Die Brüder, die schon seit Jahren gemeinsam auf den schwierigsten Routen der Alpen unterwegs sind, wollen diese RupalWand erstbesteigen. Sie sind Teil einer größeren Expedition unter Leitung des Arztes Karl Maria Herrligkoffer.
Um einen solchen Berg in Etappen bezwingen zu können, müssen die Alpinisten von ihrem Basislager mit knapp 15 Zelten aus mehrere Hochlager errichten. „Im Norden, gerade über uns, steht die Rupalflanke. 4 500 Höhenmeter sind es bis zum Gipfel. Unglaublich! Beeindruckend!“, schwärmen die Brüder in ihrem Schreiben. Am 11. Juni wollen die beiden vom Lager III auf 6 000 Metern weiter aufsteigen, sie sind motiviert, ein weiteres Höhenlager einzurichten. „Doch morgens empfing uns ein Graupeln, und eine schwarze Wolke umschloß wie ein Ring den Nanga. Schnell verkrochen wir uns wieder im Zelt“, heißt es. Und „Wir waren sauer.“Die Brüder wollen ihr Ziel erreichen.
Doch die Herrligkoffer-Expedition steht unter keinem guten Stern. Wochenlang schlechtes Wetter drückt auf das Gemüt der Teilnehmer. Dennoch erreichen die Messner-Brüder ihr großes Ziel: Am 27. Juni 1970 gelingt es ihnen, als erste Alpinisten die Wand zu durchsteigen und den Gipfel zu überschreiten. Zunächst geht der gut vorbereitete Reinhold das Wagnis ein; etwas später entschließt sich Günther spontan, dem Bruder nachzusteigen.
Der schnelle Aufstieg in die sogenannte Todeszone, die aufgrund des geringen Sauerstoffanteils
der Luft bei etwa 7 500 Höhenmetern beginnt, hinterlässt Spuren bei Günther. Er wird höhenkrank. Die Brüder errichten ein Notbiwak und entschließen sich, nicht wie geplant auf der technisch anspruchsvolleren Aufstiegsseite wieder abzusteigen, sondern den Berg zu überqueren und auf der Diamir-Seite herunterzugehen. Dabei kommt der entkräftete Günther jedoch ums Leben. Mit schwersten Erfrierungen und letzten Kräften schafft es Reinhold ins Tal.
Zweifel am Unglücksgeschehen
„Der Tod meines Bruders belastete mich schwer“, schreibt Messner Jahre später. Doch mit der Trauer um ihn ist es für den Alpinisten nicht getan. Er muss sich Vorwürfen anderer Expeditionsteilnehmer erwehren. Sie behaupten, dass Reinhold den Bruder am Berg zurückgelassen habe – weil er die erste Überschreitung des Nanga Parbat im Alleingang habe schaffen wollen. Die ehrverletzenden Vorwürfe werfen einen Schatten über das Lebenswerk des Rekordbergsteigers, der von einer Rufmordkampagne spricht.
Doch sein Problem ist, dass er den Hergang der Dinge nicht beweisen kann. Das ändert sich erst Jahrzehnte später: Im Jahr 2000 werden an der Diamirwand Knochen gefunden. 2005 kommen weitere Knochen und Ausrüstungsgegenstände ans Licht, die sich zweifelsfrei Günther Messner zuordnen lassen. Die Funde bestätigen viele Details der Messner-Version, sie rehabilitieren den Alpinisten.
Geplante Reise zum Fundort
In den vergangenen Tagen ist Messner erneut mit den schrecklichen Ereignissen am Nanga Parbat konfrontiert worden. „Letzte Woche wurde der zweite Schuh meines Bruders Günther am Fuße des Diamir-Gletschers von Einheimischen gefunden – nach zweiundfünfzig Jahren – und die Tragödie am Nanga Parbat bleibt so wie Günther für immer“, teilt Messner in dieser Woche auf Instagram mit. Messner erklärte der Deutschen Presse-Agentur anschließend, dass er den Schuh selbst abholen und nach Hause bringen werde – ein genaues Datum nannte er aber nicht, denn es eile nicht. „Ich werde in den nächsten Jahren sicher noch einmal hingehen.“
Messner selbst ist unmittelbar nach seiner Erstbesteigung des Everest ohne Flaschensauerstoff 1978 an den Nanga Parbat zurückgekehrt. Diesmal ohne eine größere Expedition. „Mein Alleingang hier soll an meinen Bruder Günther erinnern“, schrieb er im August 1978 aus dem Basislager. Beide seien sie acht Jahre zuvor „ohne jede extravagante Ausrüstung“auf den Gipfel geklommen. „Am Ende allerdings verloren wir uns in der Unendlichkeit aus Tiefe, Gefahr und Hoffnungslosigkeit.“
Die Tragödie am Nanga Parbat bleibt so wie Günther für immer. Reinhold Messner