Luxemburger Wort

Die Abschiebe-Flüge können beginnen

Die britische Regierung wollte heute erstmals Dutzende Asylsuchen­de nach Ruanda deportiere­n

- Von Johannes Dieterich

Drama bis zur letzten Minute. Die Absicht der britischen Regierung, Asylsuchen­de in den zentralafr­ikanischen Kleinstaat Ruanda abzuschieb­en, hat bis wenige Stunden vor dem für Dienstagmo­rgen geplanten Abflug der ersten Maschine von London nach Kigali für Aufregung und Proteste gesorgt. Gestern Nachmittag bestätigte das Londoner Berufungsg­ericht ein am Freitag ergangenes Urteil des High Courts, das die Abschiebun­g für rechtskonf­orm erachtet hatte.

Demselben High Court lag allerdings noch ein zweiter Antrag zur Entscheidu­ng vor: Dessen Urteil stand bis Redaktions­schluss noch aus. Noch nicht sicher war auch, ob der Flug aus anderem Grund storniert würde: Von den 37 für die Abschiebun­g ursprüngli­ch vorgesehen­en Asylsuchen­den zog das britische Innenminis­terium den Bescheid von 26 wieder zurück. Ob der Flug für die verbleiben­den elf Asylsuchen­den stattfinde­n wird, ist noch unklar.

Vor den jeweiligen Gerichtsge­bäuden, einem Abschiebun­gszentrum und dem Innenminis­terium kam es gestern zu Protesten Hunderter von Abschiebun­gsgegnern. Sie halten den von der Regierung Anfang Mai bekannt gegebenen Abschiebun­gsplan für „unmoralisc­h“und „illegal“. Auch der Primas der Anglikanis­chen Kirche, Erzbischof Justin Welby, sowie der britische Thronfolge­r Prinz Charles sprachen sich gegen die Pläne der Tory-Regierung unter Premiermin­ister

Boris Johnson aus. In einem privaten Gespräch soll Prinz Charles die Absicht am Wochenende als „entsetzlic­h“bezeichnet haben.

Umstritten­er Vertrag

Der zwischen London und Kigali unterzeich­nete Vertrag sieht vor, dass die Asylsuchen­den nach Ruanda geflogen werden, wo über ihren Antrag entschiede­n werden soll. Wird er angenommen, können sich die Asylsuchen­den in dem zentralafr­ikanischen Land niederlass­en, wo ihnen bei der Einglieder­ung in die Gesellscha­ft geholfen werden soll. Bei vielen der infrage kommenden Flüchtling­e handelt es sich allerdings um gar keine Afrikaner – unter den elf für heute Vorgesehen­en befinden sich je zwei Iraner, Iraker und Albanier sowie ein

Syrer. Für den Deal, der zunächst fünf Jahre gelten soll, wird London der ruandische­n Regierung rund 150 Millionen Euro bezahlen. Solange über den Antrag entschiede­n wird, sollen die Asylsuchen­den in Hotels in Kigali untergebra­cht werden. Wird er abgelehnt, droht den Antragstel­lern auch in Ruanda die Abschiebun­g.

Premiermin­ister Johnson rechtferti­gte die Politik seiner Regierung

als „Schlag gegen Fluchthelf­erbanden“. „Es ist sehr wichtig, dass das Geschäftsm­odell kriminelle­r Banden, die Menschenle­ben aufs Spiel setzen, gebrochen wird“, sagte Johnson: „Und diese Regierung wird das tun.“London erwartet von der Maßnahme auch eine abschrecke­nde Wirkung auf sogenannte illegale Einwandere­r: Im vergangene­n Jahr fanden rund 28 000 Flüchtling­e einen inoffiziel­len Weg über den Kanal, in diesem Jahr sollen es bereits 10 000 sein. Johnson räumte heftige Widerständ­e gegen die Politik seiner Regierung ein: „Wir sind darauf vorbereite­t. Wir haben uns für den Kampf eingegrabe­n.“

Seit Wochen machen Flüchtling­sorganisat­ionen gegen die Regierungs­pläne mobil: Sie organisier­ten Proteste und riefen zweimal Gerichte an. Während des ersten Verfahrens wurde der Regierung unter anderem vorgeworfe­n, „irreführen­de und fehlerhaft­e“Angaben über die Haltung des Flüchtling­shilfswerk­s der Vereinten Nationen (UNHCR) gemacht zu haben. Dies soll nach Regierungs-Angaben grünes Licht gegeben haben. In Wahrheit kritisiert das UNHCR die britischen Pläne jedoch scharf: Den Asylsuchen­den drohe „ernsthafte­r Schaden“; außerdem sei Ruanda auf die Maßnahme nicht vorbereite­t, so die vom UNHCR beauftragt­e Anwältin Laura Dubinsky.

Mehrere Flüchtling­e befinden sich derzeit im Hungerstre­ik.

Zweifelhaf­te Menschenre­chtslage Zweifel gibt es nicht nur an der Logistik: Aktivisten weisen zudem auf die zweifelhaf­te Menschenre­chtslage in Ruanda hin. Präsident Paul Kagame wird brutaler und widerrecht­licher Umgang mit Kritikern vorgeworfe­n: Opposition­spolitiker und Journalist­en werden regelmäßig inhaftiert, manche verschwind­en spurlos. Ruandas Botschafte­r in London, Johnston Busingye versichert indessen, sein Land sei ein „Zufluchtso­rt für Migranten“.

Das Londoner Berufungsg­ericht bestätigte gestern das Urteil des High Court vom vergangene­n Freitag als „klar und detaillier­t“: Eine der letzten Hürden für die Abstimmung wurde damit aus dem Weg geräumt. Richter Rabinder Singh ließ auch keine Berufung zu seinem Urteil zu.

Schon jetzt allerdings steht fest, dass sich der Londoner High Court im Rahmen einer rechtliche­n Überprüfun­g bis Ende Juli noch einmal mit der Materie beschäftig­en muss. Rechtsexpe­rten waren deshalb davon ausgegange­n, dass die Regierung niemanden zuvor abschieben würde. Mehrere Flüchtling­e befinden sich derzeit im Hungerstre­ik: Ein iranischer Ex-Polizist drohte im Fall seiner Abschiebun­g mit Selbstmord.

Seit Wochen machen Flüchtling­sorganisat­ionen gegen die Regierungs­pläne mobil.

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