Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

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Im Sommer sind die Dämmerstun­den lang und friedlich.

Miss Maudie und ich saßen oft auf der Veranda und beobachtet­en schweigend, wie der Himmel bei Sonnenunte­rgang von Gelb zu Rosa hinüberwec­hselte oder wie die Schwalben im Tiefflug dahinschos­sen und hinter dem Schuldach verschwand­en.

„Miss Maudie“, sagte ich eines Abends, „lebt eigentlich Boo Radley noch?"

„Er heißt Arthur, und natürlich lebt er noch", erwiderte sie und wiegte sich gemächlich in ihrem großen eichenen Schaukelst­uhl. „Riechst du meine Mimosen? Sie duften heute Abend wie der Atem von Engeln."

„Ja, Miss Maudie … Aber woher wissen Sie das?"

„Was denn, Kind?"

„Dass B… ich meine, dass Mr. Arthur noch lebt?"

„Was für eine makabre Frage! Nun, es ist wohl auch ein makabres Thema. Ich weiß, dass er lebt, Jean Louise, weil ich nicht gesehen habe, dass man ihn herausgetr­agen hat."

„Vielleicht ist er aber gestorben, und sie haben ihn in den Kamin gestopft."

„Wie kommst du denn auf so einen Unsinn?"

„Jem sagt, das hätten sie mit ihm gemacht."

„T-t-t. Der wird Jack Finch auch jeden Tag ähnlicher."

Miss Maudie kannte Onkel Jack Finch, Atticus’ Bruder, seit ihrer Kindheit. Fast gleichaltr­ig, waren sie zusammen auf Finch’s Landing groß geworden. Miss Maudie Atkinson war die Tochter von Dr. Frank Buford, einem benachbart­en Landbesitz­er. Er war Arzt von Beruf, aber besessen von allem, was auf Erden wuchs, und so blieb er arm. Onkel Jack Finch dagegen beschränkt­e seine Leidenscha­ft für Säen und Pflanzen auf seine Blumenkäst­en in Nashville und blieb reich. Er besuchte uns jedes Jahr zu Weihnachte­n – und jedes Jahr brüllte er über die Straße zu Miss Maudie hinüber, sie solle kommen und ihn heiraten.

„Schrei noch etwas lauter, Jack Finch", brüllte dann Miss Maudie zurück, „damit dich wenigstens die Leute im Postamt hören. Ich jedenfalls habe dich nicht gehört."

Für Jem und mich war das eine sonderbare Art, um die Hand einer Lady anzuhalten. Aber Onkel Jack war nun einmal sonderbar. Er sagte, er wolle Miss Maudie nur auf die Palme bringen. Das versuche er nun schon seit vierzig Jahren ohne jeden Erfolg, und er sei wohl der letzte Mann auf der Welt, den sie heiraten würde, dafür aber der erste, den sie gern necke, und gegen so etwas verteidige man sich am besten mit kühnem Angriff. Dieses Argument leuchtete uns durchaus ein.

„Arthur Radley bleibt lieber zu Hause, das ist alles", sagte Miss Maudie. „Würdest du nicht auch zu Hause bleiben, wenn du keine Lust hättest, auszugehen?"

„Ja, schon, aber ich hätte eben doch Lust, auszugehen. Warum hat er denn keine?"

Miss Maudies Augen verengten sich. „Du kennst die Geschichte genauso gut wie ich."

„Aber ich hab nie gehört, warum. Niemand hat mir erzählt, warum."

Miss Maudie rückte ihre Zahnbrücke zurecht. „Du weißt doch, dass der alte Mr. Radley Fußwaschen­der Baptist war?"

„Sind Sie das nicht auch?"

„Ich bin nicht ganz so hartgesott­en, Kind. Ich bin nur Baptistin."

„Glaubt ihr denn nicht alle an Fußwaschen?"

„Doch. Aber nur zu Hause in der Badewanne."

„Und warum können wir nicht mit euch Baptisten das Abendmahl nehmen?"

Miss Maudie fand es offenbar leichter, mir das primitive Baptistent­um zu erläutern als die Abendmahls­riten, denn sie überging meine Frage. „Die Fußwaschen­den Baptisten halten jedes Vergnügen für Sünde. Stell dir vor, einmal sind einige von ihnen an einem Samstag aus den Wäldern gekommen, und als sie mich im Garten sahen, haben sie gerufen, ich und meine Blumen, wir würden zusammen zur Hölle fahren."

„Auch Ihre Blumen?"

„Jawohl, mein Kind. Sie würden zusammen mit mir verbrennen. Weil ich angeblich zu viel Zeit in Gottes freier Natur und zu wenig im Haus mit Bibellesen verbringe."

Mein Vertrauen auf das von der Kanzel verkündete Evangelium wurde erheblich geschmäler­t, als vor meinem geistigen Auge das Bild einer Miss Maudie auftauchte, die auf ewig in den verschiede­nen protestant­ischen Höllen schmoren musste. Gewiss, sie hatte eine scharfe Zunge und ging auch nicht wie Miss Stephanie Crawford von Haus zu Haus, um Gutes zu tun. Doch während kein halbwegs normaler Mensch Miss Stephanie über den Weg traute, wussten Jem und ich, dass wir uns unbedingt auf Miss Maudie verlassen konnten. Sie hatte uns nie verpetzt, nie Katze und Maus mit uns gespielt und sich auch nie um unsere Privatange­legenheite­n

gekümmert. Sie war unsere Freundin. Wie ein so vernünftig­es Geschöpf von ewigen Höllenqual­en bedroht sein konnte, war mir unfassbar.

„Das ist aber nicht recht, Miss Maudie. Sie sind die beste Lady, die ich kenne."

Sie lächelte. „Vielen Dank, mein Kind. Die Sache ist die: Fußwaschen­de Baptisten betrachten Frauen als den Inbegriff der Sünde. Sie fassen die Bibel wörtlich auf, weißt du?"

„Bleibt Mr. Arthur zu Hause, weil er sich von den Frauen fernhalten will?"

„Da fragst du mich zu viel."

„Ich kann das einfach nicht verstehen. Auch wenn Mr. Arthur unbedingt in den Himmel kommen will, könnte er doch wenigstens ab und zu auf die Veranda gehen, finde ich. Atticus sagt, Gott liebt die Menschen so, wie sie sich selbst lieben."

Miss Maudie hörte auf zu schaukeln, und ihre Stimme klang hart, als sie erwiderte: „Du bist zu jung, um das zu verstehen, aber manchmal ist die Bibel in der Hand eines bestimmten Mannes schlimmer als eine Flasche Whisky in der Hand … na, sagen wir, in der Hand deines Vaters."

Ich war empört. „Atticus trinkt keinen Whisky! Er hat noch nie in seinem Leben auch nur einen Tropfen getrunken.“

(Fortsetzun­g folgt)

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