Das letzte Gebet
In Nigeria ist eine WhatsApp-Unterhaltung auf grausame Weise eskaliert – am Ende des Chats eine ermordete Studentin
Was genau dem Tod von Deborah Samuel vorausging, bleibt unklar. Quellen zufolge soll die 25-Jährige in einer Studenten-Chatgruppe „Jesus“für ihre großen Lernerfolge gedankt haben; andere berichten, sie habe sich über die religiösen Nachrichten ihrer muslimischen Mitstudierenden beschwert. Fest steht, was danach an der pädagogischen Hochschule im Bundesstaat Sokoto, im äußersten Norden Nigerias, passierte: Eine hitzige Debatte entbrennt. Studienkollegen werfen Samuel „Gotteslästerung“vor. Sie steinigen die junge Frau und verbrennen anschließend ihre Leiche.
„Deborah ist ein weiteres Opfer von religiösen Meuten geworden, die im nördlichen Nigeria bereits für viele Tode verantwortlich sind. Doch dieser Mord war einer zu viel“, schrieb die nigerianische Zeitung „The Guardian“. Der Lynchmord an der Studentin erschütterte das westafrikanische Land, in dem etwa gleich viele Muslime wie Christen leben. Landesweit beteten Kirchen nach dem Mord für Frieden. Das Gegenteil trat ein.
Nachdem die Polizei mehrere Verdächtige festgenommen hatte, eskalierte die Situation in gewaltsamen Protesten. Kirchenfenster zerbarsten, ein Bus brannte aus, muslimische Jugendliche steckten erfolglos eine Kathedrale in Brand. Erst als die Behörden eine Ausgangssperre ausriefen, beruhigte sich die Lage. Nur wenige Tage später wurden zwei Priester in Sokoto entführt.
Versagen der Systeme
„Nicht nur ein Versagen des Sicherheitsund Justizsystems, sondern ein Versagen der nigerianischen Nation als Ganzes“– so beschreibt der Politologe Omololu Fagbadebo den Mord mitsamt seiner Nachwirkung. Der Dozent lehrt in Südafrika, stammt aber aus Nigeria. In seiner Heimat sei Samuel nicht die erste Christin, die unter dem Motiv der „Glaubensverteidigung“getötet wurde. „Leider zogen ähnliche Fälle bisher keine breite Verurteilung nach sich“, so Fagbadebo. Er unterstellt der
Politik eine Mitschuld: „Es ist ein Riesenproblem, dass jene, die in der Vergangenheit an solch heimtückischen Verbrechen beteiligt waren, heute in der Regierung sitzen.“
Nigeria ist Afrikas bevölkerungsreichstes Land. Hier leben 206 Millionen Menschen, davon fast 40 Prozent in bitterer Armut.
Die sozioökonomischen Probleme trugen dazu bei, dass sich viele religiösen Extremisten anschlossen. Seit 2009 terrorisiert die Terrorsekte Boko Haram, deren Name „Westliche Bildung ist Sünde“bedeutet, das westafrikanische Land. Der Tod ihres Anführers Abubakar Shekau vor genau einem Jahr konnte den Fundamentalismus nicht brechen. Im Gegenteil: Viele ehemalige Boko-Haram-Kämpfer liefen zu deren Rivalen über, dem „Islamischen Staat – Westafrikaprovinz“(ISWAP). „In den ersten drei Monaten 2022 wurden fast 900 nigerianische Zivilisten bei Gewaltangriffen ermordet – darunter hunderte Christen, die wegen ihres Glaubens getötet wurden“, berichtete die Organisation Open Doors im Mai.
Politologe Fagbadebo sieht religiöse Intoleranz in Nigeria derzeit „auf einem Höhepunkt“. Immer wieder wird der religiöse Riss auch für kurzsichtige politische Ziele missbraucht. Das könnte Experten zufolge auch den Anschlag auf eine Kirche zu Monatsbeginn erklären: Der Süden Nigerias galt bisher als relativ sicher – dennoch massakrierten Bewaffnete hier am Pfingstsonntag eine Versammlung Gläubiger.
Bei dem Anschlag in der Stadt Owo starben mindestens 50 Christen; die genaue Todeszahl bleibt ungewiss. UN-Generalsekretär António Guterres verurteilte die „abscheuliche“Tat.