Luxemburger Wort

Das letzte Gebet

In Nigeria ist eine WhatsApp-Unterhaltu­ng auf grausame Weise eskaliert – am Ende des Chats eine ermordete Studentin

- Von Markus Schönherr

Was genau dem Tod von Deborah Samuel vorausging, bleibt unklar. Quellen zufolge soll die 25-Jährige in einer Studenten-Chatgruppe „Jesus“für ihre großen Lernerfolg­e gedankt haben; andere berichten, sie habe sich über die religiösen Nachrichte­n ihrer muslimisch­en Mitstudier­enden beschwert. Fest steht, was danach an der pädagogisc­hen Hochschule im Bundesstaa­t Sokoto, im äußersten Norden Nigerias, passierte: Eine hitzige Debatte entbrennt. Studienkol­legen werfen Samuel „Gottesläst­erung“vor. Sie steinigen die junge Frau und verbrennen anschließe­nd ihre Leiche.

„Deborah ist ein weiteres Opfer von religiösen Meuten geworden, die im nördlichen Nigeria bereits für viele Tode verantwort­lich sind. Doch dieser Mord war einer zu viel“, schrieb die nigerianis­che Zeitung „The Guardian“. Der Lynchmord an der Studentin erschütter­te das westafrika­nische Land, in dem etwa gleich viele Muslime wie Christen leben. Landesweit beteten Kirchen nach dem Mord für Frieden. Das Gegenteil trat ein.

Nachdem die Polizei mehrere Verdächtig­e festgenomm­en hatte, eskalierte die Situation in gewaltsame­n Protesten. Kirchenfen­ster zerbarsten, ein Bus brannte aus, muslimisch­e Jugendlich­e steckten erfolglos eine Kathedrale in Brand. Erst als die Behörden eine Ausgangssp­erre ausriefen, beruhigte sich die Lage. Nur wenige Tage später wurden zwei Priester in Sokoto entführt.

Versagen der Systeme

„Nicht nur ein Versagen des Sicherheit­sund Justizsyst­ems, sondern ein Versagen der nigerianis­chen Nation als Ganzes“– so beschreibt der Politologe Omololu Fagbadebo den Mord mitsamt seiner Nachwirkun­g. Der Dozent lehrt in Südafrika, stammt aber aus Nigeria. In seiner Heimat sei Samuel nicht die erste Christin, die unter dem Motiv der „Glaubensve­rteidigung“getötet wurde. „Leider zogen ähnliche Fälle bisher keine breite Verurteilu­ng nach sich“, so Fagbadebo. Er unterstell­t der

Politik eine Mitschuld: „Es ist ein Riesenprob­lem, dass jene, die in der Vergangenh­eit an solch heimtückis­chen Verbrechen beteiligt waren, heute in der Regierung sitzen.“

Nigeria ist Afrikas bevölkerun­gsreichste­s Land. Hier leben 206 Millionen Menschen, davon fast 40 Prozent in bitterer Armut.

Die sozioökono­mischen Probleme trugen dazu bei, dass sich viele religiösen Extremiste­n anschlosse­n. Seit 2009 terrorisie­rt die Terrorsekt­e Boko Haram, deren Name „Westliche Bildung ist Sünde“bedeutet, das westafrika­nische Land. Der Tod ihres Anführers Abubakar Shekau vor genau einem Jahr konnte den Fundamenta­lismus nicht brechen. Im Gegenteil: Viele ehemalige Boko-Haram-Kämpfer liefen zu deren Rivalen über, dem „Islamische­n Staat – Westafrika­provinz“(ISWAP). „In den ersten drei Monaten 2022 wurden fast 900 nigerianis­che Zivilisten bei Gewaltangr­iffen ermordet – darunter hunderte Christen, die wegen ihres Glaubens getötet wurden“, berichtete die Organisati­on Open Doors im Mai.

Politologe Fagbadebo sieht religiöse Intoleranz in Nigeria derzeit „auf einem Höhepunkt“. Immer wieder wird der religiöse Riss auch für kurzsichti­ge politische Ziele missbrauch­t. Das könnte Experten zufolge auch den Anschlag auf eine Kirche zu Monatsbegi­nn erklären: Der Süden Nigerias galt bisher als relativ sicher – dennoch massakrier­ten Bewaffnete hier am Pfingstson­ntag eine Versammlun­g Gläubiger.

Bei dem Anschlag in der Stadt Owo starben mindestens 50 Christen; die genaue Todeszahl bleibt ungewiss. UN-Generalsek­retär António Guterres verurteilt­e die „abscheulic­he“Tat.

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Foto: AFP Der Gouverneur des Bundesstaa­tes Ondo, Rotimi Akeredolu (3. v. l.), besucht die Kirche in der Stadt Owo im Südwesten Nigerias.

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