Das Risiko der vielen Ermittlungen
UN-Kommission legt erste Erkenntnisse zu russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine vor
Verschleppungen, Hinrichtungen, Flächenbombardements: Das ganze Ausmaß der möglichen russischen Kriegsverbrechen gegen Zivilisten in der Ukraine wird immer deutlicher. Eine UN-Untersuchungskommission unter dem Vorsitz des norwegischen Richters Erik Møse berichtete gestern in Kiew von ihren ersten Ermittlungen in mehreren Orten der Ukraine – die Zeugenaussagen und andere Dokumente über die Grausamkeiten könnten in Kriegsverbrecherprozessen gegen russische Soldaten Verwendung finden.
Allerdings droht bei der weiteren juristischen Aufarbeitung der Gewalttaten ein Wirrwarr. Denn neben der Møse-Kommission suchen und sammeln andere internationale und nationale Kommissionen sowie die ukrainischen Strafverfolgungsbehörden Indizien
und Beweise für Verbrechen. Kommt es zu Rivalitäten der Ermittler? „Es besteht das Risiko einer Überlappung“, musste Møse eingestehen. Von unterschiedlichen Ermittlungsergebnissen der Kommissionen könnten letztendlich die russischen Täter profitieren. Russlands Regierung und Armee streiten ohnehin die Verantwortung für Verbrechen kategorisch ab. Der erste russische Soldat wurde im Mai wegen der Erschießung eines Zivilisten zu lebenslanger Haft verurteilt.
Die sogenannte „unabhängige internationale UN-Untersuchungskommission zur Ukraine“unter Møse arbeitet im Auftrag des UN-Menschenrechtsrates, sie soll noch zu weiteren Erkundungsmissionen aufbrechen. Im nächsten Jahr wollen die Ermittler einen Abschlussbericht vorlegen. Daneben sammelt eine UN-Beobachtermission seit 2014 Beweise für Kriegsverbrechen
und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Ukraine. Zudem begaben sich bereits Ermittler des Internationalen Strafgerichtshofs in das osteuropäische Land und Länder wie die USA starteten eigene Untersuchungen.
„Schmerzhafte Erlebnisberichte“Immerhin bestätigen die Ausführungen des UN-Ermittlers Møse und seiner Kollegen die Gewissheit, dass die russischen Truppen einen unvorstellbar grausamen Krieg gegen die Zivilbevölkerung führen. „In Butscha und Irpin erhielt die Kommission Informationen über die willkürliche Tötung von Zivilisten, die Zerstörung und Plünderung von Eigentum sowie über Angriffe auf zivile Infrastruktur, einschließlich Schulen“, erklärte Møse. „In den Regionen Charkiw und Sumy dokumentierte die Kommission die Zerstörung großer städtischer Gebiete.“Mutmaßlich
legten die Russen die Gebiete durch Luftschläge, Raketen und Artillerie in Schutt und Asche.
Zudem hörten die Kommissionsmitglieder „schmerzhafte Erlebnisberichte“über das Einsperren, die Misshandlung und das Verschwindenlassen von Zivilisten, Vergewaltigungen und andere Formen des sexuellen Missbrauchs. Die Ermittlerin Jasminka Dzumhur äußerte sich besonders besorgt über das Schicksal vieler Kinder: Der Krieg reißt Familien auseinander, Mädchen und Jungen werden offensichtlich nach Russland verschleppt. Wie viele Kinder Opfer dieser Entführungen geworden sind, steht nach den ersten Ermittlungen noch nicht fest.
Putin ließ seine Truppen am 24. Februar in die Ukraine einmarschieren, Zehntausende Menschen wurden verletzt und getötet. Millionen Kinder, Frauen und Männer sind auf der Flucht.