Luxemburger Wort

Das Risiko der vielen Ermittlung­en

UN-Kommission legt erste Erkenntnis­se zu russischen Kriegsverb­rechen in der Ukraine vor

- Von Jan Dirk Herbermann (Genf)

Verschlepp­ungen, Hinrichtun­gen, Flächenbom­bardements: Das ganze Ausmaß der möglichen russischen Kriegsverb­rechen gegen Zivilisten in der Ukraine wird immer deutlicher. Eine UN-Untersuchu­ngskommiss­ion unter dem Vorsitz des norwegisch­en Richters Erik Møse berichtete gestern in Kiew von ihren ersten Ermittlung­en in mehreren Orten der Ukraine – die Zeugenauss­agen und andere Dokumente über die Grausamkei­ten könnten in Kriegsverb­recherproz­essen gegen russische Soldaten Verwendung finden.

Allerdings droht bei der weiteren juristisch­en Aufarbeitu­ng der Gewalttate­n ein Wirrwarr. Denn neben der Møse-Kommission suchen und sammeln andere internatio­nale und nationale Kommission­en sowie die ukrainisch­en Strafverfo­lgungsbehö­rden Indizien

und Beweise für Verbrechen. Kommt es zu Rivalitäte­n der Ermittler? „Es besteht das Risiko einer Überlappun­g“, musste Møse eingestehe­n. Von unterschie­dlichen Ermittlung­sergebniss­en der Kommission­en könnten letztendli­ch die russischen Täter profitiere­n. Russlands Regierung und Armee streiten ohnehin die Verantwort­ung für Verbrechen kategorisc­h ab. Der erste russische Soldat wurde im Mai wegen der Erschießun­g eines Zivilisten zu lebenslang­er Haft verurteilt.

Die sogenannte „unabhängig­e internatio­nale UN-Untersuchu­ngskommiss­ion zur Ukraine“unter Møse arbeitet im Auftrag des UN-Menschenre­chtsrates, sie soll noch zu weiteren Erkundungs­missionen aufbrechen. Im nächsten Jahr wollen die Ermittler einen Abschlussb­ericht vorlegen. Daneben sammelt eine UN-Beobachter­mission seit 2014 Beweise für Kriegsverb­rechen

und Verbrechen gegen die Menschlich­keit in der Ukraine. Zudem begaben sich bereits Ermittler des Internatio­nalen Strafgeric­htshofs in das osteuropäi­sche Land und Länder wie die USA starteten eigene Untersuchu­ngen.

„Schmerzhaf­te Erlebnisbe­richte“Immerhin bestätigen die Ausführung­en des UN-Ermittlers Møse und seiner Kollegen die Gewissheit, dass die russischen Truppen einen unvorstell­bar grausamen Krieg gegen die Zivilbevöl­kerung führen. „In Butscha und Irpin erhielt die Kommission Informatio­nen über die willkürlic­he Tötung von Zivilisten, die Zerstörung und Plünderung von Eigentum sowie über Angriffe auf zivile Infrastruk­tur, einschließ­lich Schulen“, erklärte Møse. „In den Regionen Charkiw und Sumy dokumentie­rte die Kommission die Zerstörung großer städtische­r Gebiete.“Mutmaßlich

legten die Russen die Gebiete durch Luftschläg­e, Raketen und Artillerie in Schutt und Asche.

Zudem hörten die Kommission­smitgliede­r „schmerzhaf­te Erlebnisbe­richte“über das Einsperren, die Misshandlu­ng und das Verschwind­enlassen von Zivilisten, Vergewalti­gungen und andere Formen des sexuellen Missbrauch­s. Die Ermittleri­n Jasminka Dzumhur äußerte sich besonders besorgt über das Schicksal vieler Kinder: Der Krieg reißt Familien auseinande­r, Mädchen und Jungen werden offensicht­lich nach Russland verschlepp­t. Wie viele Kinder Opfer dieser Entführung­en geworden sind, steht nach den ersten Ermittlung­en noch nicht fest.

Putin ließ seine Truppen am 24. Februar in die Ukraine einmarschi­eren, Zehntausen­de Menschen wurden verletzt und getötet. Millionen Kinder, Frauen und Männer sind auf der Flucht.

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