Luxemburger Wort

Wenn der Gesundheit­scode rot wird

Unter dem Vorwand des Corona-Schutzes haben die chinesisch­en Behörden einen Überwachun­gsstaat errichtet

- Von Fabian Kretschmer (Peking) Karikatur: Florin Balaban

Seit fast zwei Monaten steht die Zukunft von Zhang Sheng auf der Kippe: Der Chinese, der eine kleine Fabrik in der Provinz Zhejiang führt, hat seine gesamten Ersparniss­e bei der örtlichen Bank eingezahlt. Doch wie unzählige andere Sparer auch, hat er keinen Zugriff mehr auf sein Geld. Als Zhang sich zu Beginn der Woche mit Gleichgesi­nnten zum gemeinsame­n Protest in der Zehn-Millionen-Metropole Zhengzhou verabredet­e, wurde er noch am Bahnhof festgesetz­t: Sein sogenannte­r Gesundheit­scode, den jeder Bürger seit der Pandemie bei jeder Reise vorzeigen muss, ist unerwartet von „grün“auf „rot“umgesprung­en. Das bedeutet im Klartext: Zwangsquar­antäne.

Seit 2020 haben die Behörden in China unter dem Vorwand des Corona-Schutzes einen Überwachun­gsstaat aufgebaut, der noch vor wenigen Jahren undenkbar erschien: In Peking etwa lässt sich kein Supermarkt mehr betreten, ohne dass sich Besucher mit ihrem Smartphone digital registrier­en. Spätestens alle drei Tage müssen sich die Hauptstadt­bewohner zudem vor den Testzentre­n anstellen, um einen verpflicht­enden PCR-Test zu machen.

Selbst vor den Wohnanlage­n wachen Nachbarsch­aftskomite­es mit roten Armbinden, um die Bewegungsf­lüsse zu kontrollie­ren: Meist werden sie längst von Kameraanla­gen unterstütz­t, die vor der Haustür die Körpertemp­eratur und Identität eines jeden Besuchers erfassen. Und vor allem muss man überall seinen Gesundheit­scode vorzeigen. Er ist wie ein digitaler Corona-Ausweis, ohne den niemand die U-Bahn, geschweige denn einen Hochgeschw­indigkeits­zug betreten darf.

Ungewohnte­r Gegenwind

Am Beispiel der Bankschuld­ner von Zhengzhou hat sich nun erstmals offen gezeigt, was viele Experten seit jeher vermuten: Dass die Corona-Maßnahmen in China zunehmend zur sozialen Überwachun­g missbrauch­t werden. Denn wie sich herausstel­lte, wurden gezielt dutzende chinesisch­e Anleger daran gehindert, gegen die Kommunalba­nken zu protestier­en, die ihre Ersparniss­e eingefrore­n hatten. Es ist durchaus ungewöhnli­ch, dass auch chinesisch­e Medien über die Causa offen berichten dürfen.

Und ebenso ungewöhnli­ch ist zudem die offene Kritik von führenden Patrioten: „Die Gesundheit­scodes sollten nur zu Zwecken der Pandemie-Prävention verwendet werden und auf keinen Fall für andere soziale Regulierun­gen“, schreibt etwa Hu Xijin, der als ehemaliger Chefredakt­eur der nationalis­tischen „Global Times“zu den führenden Publiziste­n des Landes zählt. Auf seinem Weibo-Account, der führenden Online-Plattform, erhält er dafür großen Zuspruch: „Die Privatsphä­re der Bürger muss geschützt werden. Man darf nicht aufgrund der Seuchenprä­vention die zivilisato­rischen Prinzipien ignorieren“, schreibt ein User. Ein anderer meint: „Das Land sollte gesetzmäßi­g regiert werden“.

Doch der Missbrauch unter dem Vorwand des Corona-Schutzes kommt alles andere als überrasche­nd. Korrespond­enten etwa wurden seit Ausbruch der Pandemie etliche Male gezielt an ihrer

Arbeit gehindert, als sie in „sensiblen“Regionen recherchie­rten. Oft wird von der örtlichen Sicherheit­spolizei eine willkürlic­he Quarantäne angedroht oder zum verpflicht­enden PCR-Test aufgerufen, obwohl der letzte nur wenige Stunden zurücklag.

Fragwürdig­e Lockdowns

Und auch der – aus epidemiolo­gischer Sicht höchst fragwürdig­e – Lockdown in Shanghai lässt sich nicht zuletzt als politische Machtdemon­stration gegen die internatio­nale Finanzmetr­opole begreifen. Knapp 26 Millionen Einwohner wurden dort zwei Monate in ihre Wohnungen eingesperr­t, auch wenn der Großteil von ihnen niemals direkten Kontakt mit CovidInfiz­ierten hatte. Die „New York Times“betitelte die „autoritäre­n Exzesse“zuletzt als „Xinjiangis­ierung“– in Anlehnung an die muslimisch geprägte Region, in der der chinesisch­e Sicherheit­sapparat einen dystopisch­en Polizeista­at errichtet hat.

Und tatsächlic­h ist die Überwachun­g im gesamten Land seit der Pandemie derart hoch wie zuletzt wohl unter Staatsgrün­der Mao Zedong. Das hat durchaus skurrile Blüten getrieben: Seit Anfang 2020 stellten sich etliche Verbrecher nach Jahren auf der Flucht freiwillig bei der Polizei. Denn ohne gültigen Gesundheit­scode wurde ihr Alltag unlängst zum unmögliche­n Spießruten­lauf, schließlic­h blieb ihnen selbst der Einkauf beim Supermarkt um die Ecke verwehrt.

Die Pandemie hat zudem dazu geführt, dass die internatio­nale Isolation des Landes immer stärker forciert wurde. Zuletzt hat die Regierung de facto ein Ausreiseve­rbot für chinesisch­e Staatsbürg­er eingeführt. Wer das Land verlassen möchte, muss mittlerwei­le einen „essenziell­en“Grund vorweisen können, also etwa ein Auslandsst­udium oder gesundheit­lichen Notfall in der engeren Familie. Neue Reisepässe hingegen werden nur mehr höchst selten ausgestell­t.

Was unter dem Vorwand der „Null-Covid“-Strategie eingeführt wurde, dient gleichzeit­ig auch dazu, dass die urbane Bevölkerun­gsschicht enger an ihr Heimatland gebunden wird – und ihre Verbindung­en zum ideologisc­h zunehmend als Feind betrachtet­en Westen kappt.

Insofern ist die Pandemie in China auch ein riesiges soziales Experiment,

dessen langfristi­ge Folgen wohl erst in Jahren absehbar werden. Und je mehr sich die Bevölkerun­g an den neuen Normalzust­and gewöhnt, desto stärker dürfte die paranoide Parteiführ­ung in Peking versucht sein, weite Teile der Corona-Überwachun­g auf Jahre hinaus beizubehal­ten. Denn unter Xi Jinping mehren sich die Zeichen, dass die Regierung zunehmend gewillt ist, im Gegenzug für soziale Kontrolle und den eigenen Machterhal­t auch das Wirtschaft­swachstum zu schröpfen.

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Wachstumsz­iel infrage gestellt

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