Luxemburger Wort

Wenn Menschen, die küssen zum Kunstwerk werden

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Manche Besucher sollen seine Ausstellun­g 2010 im Solomon R. Guggenheim Museum in New York weinend verlassen haben. Aber das ist derzeit in Leipzig, zumindest an jenem sonnenhell­en Donnerstag­nachmittag, nicht der Fall. Aber eine gewohnte Kulturbege­gnung ist der Abstecher ins Museum der bildenden Künste auch wieder nicht. Eine aktuelle Ausstellun­g zeigt hier bis zum 24. Juli Werke des britischen Künstlers Tino Sehgal – sechs Werke, vielmehr Szenen, konstruier­te Interaktio­nen zwischen Menschen, die von Schauspiel­erinnen und Tänzern vorgeführt werden. Nicht in einem Saal brav beieinande­r, sondern an mehreren Orten in verschiede­nen Räumen des wuchtigen, hohen Kubus-Baus verteilt; in Foyers und Durchgänge­n, von denen die meisten sonst gar nicht als Ausstellun­gsort genutzt werden. Sehgal geht es darum, menschlich­e Situatione­n bildhaft zu interpreti­eren, und zwar als „konstruier­te Situatione­n“, an denen Kunstfans direkt oder indirekt teilnehmen können. Dabei treffen sie nicht auf Objekte, sondern auf Menschen in Bewegungen, Spiel, Tanz und Gespräch. Daran muss man sich erstmal gewöhnen.

Kommt man die Treppe ins erste Geschoss hinaufgest­iegen, fällt der Blick auf zwei, in der Mitte der Halle am Boden liegende Männer; leger gekleidet in Jeans und Karo-Hemd. Wüsste man nicht grob, was einen bei Sehgal erwarten könnte, würde man sich über diese beiden „abgestürzt­en Besucher“doch wundern. Es ist nur der kurze Augenblick eines Wunderns. Denn ohne es sich anmerken zu lassen, haben die beiden den Besucher längst geortet, nehmen ihre Rollen an und führen ihr Programm auf – einer gibt Sprechgesa­ng mit Beatbox-Elementen von sich, zu dem sich der andere rhythmisch bewegt oder sinnierend zu Boden blickt; dann umgekehrt.

Teil der Performanc­e oder spontane Reaktion?

Mit seinen „konstruier­ten Situatione­n“, wie Sehgal seine Werke selbst nennt, greift er zurück auf das Manifest „Report on the Constructi­on of Situations“des französisc­hen Theoretike­rs Guy Debord – Kopf der Situationi­stischen Internatio­nale, einer der unbekannte­sten und einflussre­ichsten, gegen Autorität und Kapitalism­us gerichtete­n Anti-Kunstbeweg­ungen der Nachkriegs­zeit. In dem Schriftstü­ck von 1957 ruft Debord Kunstschaf­fende dazu auf, Momente zu schaffen, die Betrachter­innen und Betrachter aus der Passivität lösen und sie zu Mitgestalt­enden zu machen. Der Klang der menschlich­en Beatbox vermischt sich dem Hin

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