100 stürmische Tage
Chiles Präsident Gabriel Boric und seine junge linke Regierung haben drei schwierige erste Monate hinter sich
Der Wendepunkt in diesen turbulenten ersten drei Regierungsmonaten war dann ein ganz und gar staatstragendes Ereignis. Eine Rede an die Nation, live in alle Wohnzimmer Chiles übertragen. Anfang des Monats sprach Gabriel Boric zum ersten Mal als Staatschef vor dem Kongress in der Hafenstadt Valparaiso. Er trug einen dunkelblauen Anzug und die Präsidentenschärpe. Aber wie immer kam er ohne Krawatte.
Der junge Linkspräsident, seit dem 11. März im Amt, trug aber einen Rucksack an Problemen und Herausforderungen vor allem bei den Themen Sicherheit und Wirtschaft mit sich. Und daheim hörten die Chileninnen und Chilenen aufmerksam zu, was er zu den ersten aufreibenden Wochen und Monaten zu sagen hatte, in denen seine Popularität auf 36 Prozent gefallen war. „Boric hat in einem komplizierten Szenario übernommen, das in Chile so noch keine Regierung vorher hatte“, sagt Camila Miranda, Direktorin des Thinktanks „Fundación Nodo XXI“. Die neue Regierung habe „keine Schonfrist, keine Einarbeitungszeit“
bekommen. „Von heute auf morgen mussten rasch wichtige Entscheidungen getroffen werden“, unterstreicht Miranda. Da seien Fehler nicht ausgeblieben.
Realität des Regierens
Tatsächlich waren die ersten 100 Tage für diese erste linke Regierung seit Salvador Allende 1970 eine Feuertaufe, ein hartes Ankommen in der Realität des Regierens. Die Ministerinnen und Minister brachten vor allem Enthusiasmus, Leidenschaft sowie Gestaltungsund Veränderungswillen mit. Aber wenig politische Erfahrung. Dabei führen Boric und sein Kabinett die viertgrößte Volkswirtschaft Lateinamerikas, ein kleines Land mit großem Selbstbewusstsein und vielen international erfolgreichen Unternehmen.
Aber Chile ist auch ein Land mit mindestens so vielen Problemen, einer Post-Pandemie-Wirtschaftskrise, steigender Armut und Menschen, denen es am Nötigsten fehlt. Dazu hat sich die neue Regierung im Nachgang des Aufstands von 2019 nicht weniger als den Umbau des neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells zu einer sozialen
Gabriel Boric ist ein Hoffnungsträger der Linken.
Marktwirtschaft nach europäischem Vorbild vorgenommen. An so einer Aufgabe scheitern auch erfahrene Regierungen in leichteren Zeiten.
Boric‘ Rede vor dem Kongress dauerte zwei Stunden und 20 Minuten, in denen er versuchte, dem Land den Optimismus zurückzugeben, den es verloren hat. „Vertrauen und Zuversicht müssen über Pessimismus und Miesmacherei siegen“, verlangte Boric unter Beifall.
Der 36-Jährige und seine im Schnitt kaum älteren 14 Ministerinnen und zehn Minister haben es von Anbeginn mit alten und neuen Problemen zu tun gehabt, von denen die meisten ererbt waren. Der Mapuche-Konflikt im Süden des Landes und die Kriminalität in den Städten geraten zunehmend außer Kontrolle. Die Drogenbanden tragen vor allem in der Hauptstadt Santiago ihre Konflikte auf offener Straße aus. Die Inflation ist auf eine Jahresteuerungsrate von 11,5 Prozent geschnellt, dabei hatte Chile schon vorher europäisches Preisniveau bei lateinamerikanischen Einkünften.
Fuhrunternehmer haben versucht, das Land lahmzulegen, im Norden kam es zu Scharmützeln zwischen Einheimischen und venezolanischen Migranten. Und die verfassunggebende Versammlung zankte lange zäh um die 449 Artikel des neuen Grundgesetzes, das im Juli präsentiert und über das im September abgestimmt werden soll.
Inzwischen hätte sich die Regierung aber stabilisiert, die Nervosität sei weg, betont Claudia Heiss, Politologin an der Universidad de Chile. „Es ist mehr Ordnung da, und die Richtung ist klarer.“Jetzt gehe es vor allem darum, die Wirtschaft auf Kurs zu bringen und die Kriminalität wirksam zu bekämpfen und vor allem die Bevölkerung von den umfassenden Reformen zu überzeugen.
Ein Chile für alle
Bei seiner Rede vor dem Kongress rief Boric dann auch alle Seiten auf, gemeinsam an der Vision eines „Chiles für alle“zu arbeiten. „Ein Land, das sozial zerrissen ist, kann nicht wachsen, daher ist eine gerechtere Einkommensverteilung eine notwendige Voraussetzung für die Rückkehr auf den Pfad der Entwicklung.“Dafür müssten Unternehmen und Gewerkschaften gleichermaßen sorgen.
Und der Staatschef sprach vor allem von dem Land, das er sich vorstellt, dem feministischen und grünen Chile und dem Chile ohne Gewalt. „Ich werde dafür sorgen, dass das Gesetz eingehalten wird und dass die Bürger wieder in Ruhe durch ihre Städte gehen können“, sagte er, wissend, dass es das ist, was die Menschen am meisten besorgt.
Der junge Präsident hat mit seiner Rede Vertrauen zurückgewonnen. In einer Umfrage jüngst stieg seine Popularität von 36 auf 44 Prozent an.