Luxemburger Wort

Furcht vor dem Stillstand

In der zweiten Runde der Parlaments­wahlen könnte Emmanuel Macron seine Mehrheit verlieren

- Von Christine Longin (Paris)

Die Präsidente­nmaschine mit der Aufschrift „République française“stand gut sichtbar hinter Emmanuel Macron, als der 44-Jährige sich am Dienstagab­end an seine Landsleute wandte. Ganz im Stil der US-Präsidente­n hielt der Staatschef vor seinem startberei­ten Flugzeug eine Ansprache zur zweiten Runde der Parlaments­wahlen. Als wollte er in gut zwei Minuten die drei Tage wieder gut machen, die er durch seine Reise nach Rumänien, Moldau und in die Ukraine verlor.

Für den Präsidente­n geht es nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Frankreich um viel. Seinem Bündnis Ensemble droht am Sonntag nämlich der Verlust der absoluten Mehrheit in der Nationalve­rsammlung. „Ich möchte Sie heute davon überzeugen, dem Land am Sonntag eine solide Mehrheit zu geben“, warb der Präsident bei seinem ungewöhnli­chen Auftritt

auf dem Flughafen Orly. „Nichts ist schlimmer, als in der Unbeweglic­hkeit zu erstarren“, warnte er. Ein solches Szenario könnte ihm drohen, wenn sein Lager weniger als 289 der 577 Sitze in der Nationalve­rsammlung gewinnt. Das Meinungsfo­rschungsin­stitut Ipsos sagt dem Präsidente­nlager 265 bis 305 Mandate voraus. Andere Prognosen setzen noch niedrigere Zahlen an.

Auf Unterstütz­ung angewiesen

Eine relative Mehrheit in der Assemblée Nationale würde den Staatschef zwingen, bei jedem Projekt die Unterstütz­ung anderer Parteien zu suchen. In den vergangene­n Jahrzehnte­n kam das erst dreimal vor. Für Macron böte sich als einziger ernst zu nehmender Partner die konservati­ven Républicai­ns (LR) an, die mit 60 bis 80 Abgeordnet­en rechnen können.

Ihre Rolle als größte Opposition­spartei dürfte LR damit an die Linksallia­nz Nupes verlieren, der 140 bis 180 Sitze vorhergesa­gt werden. Unter Federführu­ng des Linkspopul­isten Jean-Luc Mélenchon hatte sich dessen Partei La France Insoumise Anfang Mai mit Sozialiste­n, Grünen und Kommuniste­n zusammen geschlosse­n. Das Bündnis der jahrelang zerstritte­nen Parteien erreichte in der ersten Runde am vergangene­n Sonntag ein überrasche­nd gutes Ergebnis.

„Egal, ob absolute Mehrheit oder nicht, Emmanuel Macron wird der große Verlierer dieser Wahl sein“, sagte der Meinungsfo­rscher Gaël Sliman in der Zeitung „Le Figaro“voraus. Der Präsident hatte sich nach seiner Wiederwahl Ende April zurückgezo­gen und kaum in den müden Parlaments­wahlkampf eingemisch­t. Am Abend der ersten Wahlrunde erlebte sein Parteienbü­ndnis deshalb eine böse Überraschu­ng, als erste Prognosen nur noch eine relative Mehrheit für den Präsidente­n sahen. Von den 15 Ministerin­nen und Ministern, die sich um einen Abgeordnet­ensitz bewerben, drohen mehrere am Sonntag zu verlieren. Schwergewi­chte wie Umweltmini­sterin Amélie de Montchalin und Europamini­ster Clement Beaune müssten dann die Regierung verlassen.

Egal, ob absolute Mehrheit oder nicht, Emmanuel Macron wird der große Verlierer dieser Wahl sein. Gaël Sliman, Meinungsfo­rscher

Sorge um Wiederwahl

Gegner der beiden sind wie in vielen anderen Wahlkreise­n auch die Kandidatin­nen und Kandidaten der Nupes. Gleich mehrere Vertreter des Regierungs­lagers warnten deshalb in den vergangene­n Tagen vor dem Linksbündn­is, das sich den „Ungehorsam“gegenüber den europäisch­en Verträgen in die Wahlplattf­orm schrieb. Mélenchon will außerdem die NATO verlassen und Frankreich zu einem blockfreie­n Staat machen. Der 70Jährige zeigte jahrelang auch viel Verständni­s für den russischen Präsidente­n Wladimir Putin – ähnlich wie Le Pen am rechten Rand, die mit 25 bis 50 Sitzen in der neuen Nationalve­rsammlung rechnen kann. Mit seinem Ukraine-Besuch wollte Macron auch ein Signal an die beiden senden.

Die Reise brachte ihm allerdings von der Opposition heftige Kritik ein. „Das Haus brennt und Emmanuel Macron schaut woanders hin“, kommentier­te der konservati­ve Politiker Jean-François Copé die Abwesenhei­t des Präsidente­n. Mélenchon, der nie um ein scharfes Wort verlegen ist, bemerkte: „Sein Schiff sinkt und Macron nimmt das Flugzeug.“

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Fotos: AFP Jean-Luc Mélenchon, der Anführer des linken Wahlbündni­sses, dürfte dem Präsidente­n entscheide­nde Verluste zufügen.
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Während sein Kontrahent in Frankreich Wahlkampf machte, inszeniert­e sich Präsident Emmanuel Macron – hier zusammen mit dem deutschen Kanzler Olaf Scholz im polnischen Przemysl – als Staatsmann.

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