Furcht vor dem Stillstand
In der zweiten Runde der Parlamentswahlen könnte Emmanuel Macron seine Mehrheit verlieren
Die Präsidentenmaschine mit der Aufschrift „République française“stand gut sichtbar hinter Emmanuel Macron, als der 44-Jährige sich am Dienstagabend an seine Landsleute wandte. Ganz im Stil der US-Präsidenten hielt der Staatschef vor seinem startbereiten Flugzeug eine Ansprache zur zweiten Runde der Parlamentswahlen. Als wollte er in gut zwei Minuten die drei Tage wieder gut machen, die er durch seine Reise nach Rumänien, Moldau und in die Ukraine verlor.
Für den Präsidenten geht es nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Frankreich um viel. Seinem Bündnis Ensemble droht am Sonntag nämlich der Verlust der absoluten Mehrheit in der Nationalversammlung. „Ich möchte Sie heute davon überzeugen, dem Land am Sonntag eine solide Mehrheit zu geben“, warb der Präsident bei seinem ungewöhnlichen Auftritt
auf dem Flughafen Orly. „Nichts ist schlimmer, als in der Unbeweglichkeit zu erstarren“, warnte er. Ein solches Szenario könnte ihm drohen, wenn sein Lager weniger als 289 der 577 Sitze in der Nationalversammlung gewinnt. Das Meinungsforschungsinstitut Ipsos sagt dem Präsidentenlager 265 bis 305 Mandate voraus. Andere Prognosen setzen noch niedrigere Zahlen an.
Auf Unterstützung angewiesen
Eine relative Mehrheit in der Assemblée Nationale würde den Staatschef zwingen, bei jedem Projekt die Unterstützung anderer Parteien zu suchen. In den vergangenen Jahrzehnten kam das erst dreimal vor. Für Macron böte sich als einziger ernst zu nehmender Partner die konservativen Républicains (LR) an, die mit 60 bis 80 Abgeordneten rechnen können.
Ihre Rolle als größte Oppositionspartei dürfte LR damit an die Linksallianz Nupes verlieren, der 140 bis 180 Sitze vorhergesagt werden. Unter Federführung des Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon hatte sich dessen Partei La France Insoumise Anfang Mai mit Sozialisten, Grünen und Kommunisten zusammen geschlossen. Das Bündnis der jahrelang zerstrittenen Parteien erreichte in der ersten Runde am vergangenen Sonntag ein überraschend gutes Ergebnis.
„Egal, ob absolute Mehrheit oder nicht, Emmanuel Macron wird der große Verlierer dieser Wahl sein“, sagte der Meinungsforscher Gaël Sliman in der Zeitung „Le Figaro“voraus. Der Präsident hatte sich nach seiner Wiederwahl Ende April zurückgezogen und kaum in den müden Parlamentswahlkampf eingemischt. Am Abend der ersten Wahlrunde erlebte sein Parteienbündnis deshalb eine böse Überraschung, als erste Prognosen nur noch eine relative Mehrheit für den Präsidenten sahen. Von den 15 Ministerinnen und Ministern, die sich um einen Abgeordnetensitz bewerben, drohen mehrere am Sonntag zu verlieren. Schwergewichte wie Umweltministerin Amélie de Montchalin und Europaminister Clement Beaune müssten dann die Regierung verlassen.
Egal, ob absolute Mehrheit oder nicht, Emmanuel Macron wird der große Verlierer dieser Wahl sein. Gaël Sliman, Meinungsforscher
Sorge um Wiederwahl
Gegner der beiden sind wie in vielen anderen Wahlkreisen auch die Kandidatinnen und Kandidaten der Nupes. Gleich mehrere Vertreter des Regierungslagers warnten deshalb in den vergangenen Tagen vor dem Linksbündnis, das sich den „Ungehorsam“gegenüber den europäischen Verträgen in die Wahlplattform schrieb. Mélenchon will außerdem die NATO verlassen und Frankreich zu einem blockfreien Staat machen. Der 70Jährige zeigte jahrelang auch viel Verständnis für den russischen Präsidenten Wladimir Putin – ähnlich wie Le Pen am rechten Rand, die mit 25 bis 50 Sitzen in der neuen Nationalversammlung rechnen kann. Mit seinem Ukraine-Besuch wollte Macron auch ein Signal an die beiden senden.
Die Reise brachte ihm allerdings von der Opposition heftige Kritik ein. „Das Haus brennt und Emmanuel Macron schaut woanders hin“, kommentierte der konservative Politiker Jean-François Copé die Abwesenheit des Präsidenten. Mélenchon, der nie um ein scharfes Wort verlegen ist, bemerkte: „Sein Schiff sinkt und Macron nimmt das Flugzeug.“