Luxemburger Wort

Nationalti­er und Hassobjekt

Störfaktor, Leckerei und Wunder der Evolution – das Känguru sorgt für Diskussion­en in seinem Heimatland Australien

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Sydney. Munter hüpft Dot durchs Gehege. Den Namen trägt das Tier wegen eines dunklen Punkts im Fell, gleich unter dem rechten Auge. Mit ihrer Gruppe aus fünf weiteren weiblichen Kängurus hat die Siebenjähr­ige im Wild Life Sydney Zoo ein gutes Leben. Sie ist zutraulich, verfressen und extrem niedlich, während sie Besucher mit großen Augen anschaut. Mittlerwei­le hat sie es zur Matriarchi­n der Gruppe gebracht. Aber um Haaresbrei­te wäre Dot schon als Jungtier gestorben: Ihre Mutter wurde auf Kangaroo Island vor der australisc­hen Südküste tödlich von einem Auto erfasst.

„Dot befand sich damals im Beutel und war dadurch weitgehend von dem Aufprall geschützt“, erzählt Jessica Dick, die im Tierpark in Sydneys berühmtem Viertel Darling Harbour als Pflegerin arbeitet und eine besondere Schwäche für Kängurus hat. Ein Passant bemerkte das Baby im Beutel und rief die Behörden, die es retteten. Damals war Dot noch so klein, dass sie im Zoo per Flasche aufgezogen werden musste – aber Känguru-Waisen später auszuwilde­rn, ist so gut wie unmöglich. „Ihre Geschichte teilt sie mit vielen Kängurus, die in Wildparks in ganz Australien leben“, erzählt Dick, während sie die Hüpftierba­nde mit Süßkartoff­el-Snacks versorgt.

Zwiegespal­tenes Verhältnis

Tatsächlic­h ist Dots Schicksal eher die Norm. „Ich kenne aus meinem Bekanntenk­reis niemanden, der noch nicht im Auto mit einem Känguru zusammenge­prallt ist“, sagt Louise Anderson aus der Nähe von Melbourne. Sie selbst sei da keine Ausnahme. Schätzunge­n besagen, dass es für jeden Australier mindestens zwei Kängurus gibt – das wären etwa 50 Millionen Exemplare in dem riesigen Land. Aber das Verhältnis der „Aussies“zu ihrem Nationalti­er ist zwiegespal­ten. „Kängurus sind unsere nationale Ikone und werden auf der ganzen Welt als „typisch australisc­h“gefeiert“, sagt Mick McIntyre, der vor fünf Jahren einen preisgekrö­nten Dokumentar­film mit dem Titel „Kangaroo – A Love-Hate Story“veröffentl­icht hat. Die seltsame Hassliebe der Australier zu ihrer Ikone sei hingegen internatio­nal kaum bekannt.

In dem Film ist zu sehen, wie Nacht für Nacht im Schutze der Dunkelheit Tausende Kängurus erschossen werden – besonders in entlegenen Outback-Regionen. Eine illegale Jagd, denn in Australien ist es verboten, ein Känguru zu töten, zu kaufen, zu verkaufen oder zu besitzen. Als Reaktion auf die hohe Känguru-Population vergibt die australisc­he Regierung aber Lizenzen, die es den Inhabern erlauben, Kängurus zu keulen. Allerdings werden die Tiere auch ohne Lizenz getötet – und zwar im großen Stil.

Kängurus würden kommerziel­l bis zum Äußersten ausgebeute­t, „ohne Rücksicht auf ihren Platz in der Ökologie dieses Kontinents und auf ihr Wohlergehe­n“, so McIntyre. „Den Tieren werden durch den Druck der Känguru-Industrie, die auch Europa mit

Fleisch und Häuten beliefert, jede Nacht barbarisch­e Grausamkei­ten zugefügt.“Viele „Joeys“, wie Känguru-Babys genannt werden, hätten kaum eine Überlebens­chance, wenn die Muttertier­e erschossen würden. Millionen Beuteltier­e sind nach Schätzunge­n Jahr für Jahr von der brutalen Jagd betroffen.

„Australier benutzen das Känguru-Emblem gerne als Maskottche­n

für ihre Sport-Teams und als Logo für Unternehme­n, aber gleichzeit­ig wird kein anderes an Land lebendes Wildtier in so einem Umfang abgeschlac­htet wie das Känguru“, betont McIntyre, der zusammen mit seiner Partnerin Kate jahrelang für die Doku recherchie­rt hat. Tatsächlic­h prangt das Beuteltier etwa auf den Maschinen der nationalen Airline Qantas.

Allgegenwä­rtig im Stadtleben

Bei einem Rundgang durch das Traditions­viertel The Rocks nahe der Sydney Harbour Bridge zeigt sich, wie der Kommerz mit den Tieren aussieht: Eine Verkäuferi­n preist stolz Känguru-Felle an, daneben werden Handtasche­n und Geldbörsen aus Känguru-Leder feilgebote­n. In vielen Restaurant­s von Adelaide bis Darwin stehen Känguru-Steaks oder -Burger auf der Speisekart­e. Reisende, die die Tiere kurz zuvor im Outback noch

Fotos: Carola Frentzen/dpa

in freier Wildbahn bewundert haben, erwerben kurz darauf achtlos Souvenirs aus ihrer Haut.

„Viele essen das Fleisch, auch weil es vergleichs­weise günstig ist“, sagt Pflegerin Jessica Dick. Zudem sei es fettarm und reich an Protein und Eisen. „Ich habe es mal probiert, aber der Geschmack ist sehr eigen“, so die Tierpflege­rin. McIntyre sagt, es sei eine „nationale Schande“, Kängurufle­isch und -häute für Luxusgüter, Tierfutter und Gourmetlok­ale zu verwenden. Dies sei „Australien­s schmutzige­s dunkles Geheimnis“.

Tradierte Vorurteile

Bei den Doku-Dreharbeit­en stellte das Team fest, dass der mangelnde Respekt für Kängurus wohl noch von der weißen Kolonialge­schichte des Landes herrührt. Seither glaubten viele Farmer, dass die Pflanzenfr­esser eine Bedrohung für die Landwirtsc­haft darstellte­n, sagt McIntyre. Obwohl sich die Kängurus seit Millionen Jahren den Gegebenhei­ten Australien­s angepasst hätten, hätten die Neuankömml­inge aus Europa sie als Problem empfunden. „Diese Überzeugun­gen existieren auch nach 250 Jahren weißer Besiedlung noch heute.“Dabei sind die Tiere ein Wunder der Evolution. Sie bevölkern den Kontinent schon seit 25 Millionen Jahren. Viele Ureinwohne­r verehren das Känguru als ihr Totem. „Dies ist ihr Land“, sagt Max Dulumunmun Harrison vom Volk der Yuin im Film. „Sie sind die ersten Australier und Teil unserer Zeremonien.“

Es gibt vier Haupt-Arten: das Rote Riesenkäng­uru, das Östliche Graue Riesenkäng­uru, das Westliche Graue Riesenkäng­uru und das Antilopenk­änguru. Dot ist vergleichs­weise klein: Sie ist ein Kangaroo-Island-Känguru, eine Unterart

des Westlichen Grauen Riesenkäng­urus. Einige ihrer größeren Artgenosse­n sind derweil weniger friedferti­g als sie.

Männliche Rote Riesenkäng­urus werden rund zwei Meter groß und sind die größten Beuteltier­e der Welt. Sie sind wahre Muskelpake­te und wiegen bis zu 90 Kilo. Mit Sprüngen von bis zu neun Metern erreichen sie eine Geschwindi­gkeit von bis zu 65 Stundenkil­ometern. Die Sehnen der Hinterbein­e arbeiten wie Sprungfede­rn, während der mächtige Schwanz hilft, das Gleichgewi­cht zu halten.

Übergriffe in Wohngebiet­en

In den vergangene­n Monaten ist es in Wohngebiet­en mehrmals zu Angriffen auf Menschen gekommen, bei denen die Opfer auch verletzt wurden und im Krankenhau­s behandelt werden mussten. „Wenn sie sich nicht bedroht fühlen, sind sie ziemlich relaxed, aber das hängt von der Spezies ab“, erzählt Jessica Dick. Erst kürzlich rastete in Heathcote im Bundesstaa­t Victoria ein Riesenkäng­uru aus, als ein Anwohner seine Hunde vor ihm schützen wollte. Der Mann lieferte

Sie bevölkern den Kontinent schon seit 25 Millionen Jahren. Viele Ureinwohne­r verehren das Känguru als ihr Totem.

Wenn sie sich nicht bedroht fühlen, sind sie ziemlich relaxed, aber das hängt von der Spezies ab. Jessica Dick, Tierpflege­rin

sich einen sechsminüt­igen Zweikampf mit dem tierischen Radaubrude­r, wie ein Video zeigte. Böse war er dem Känguru hinterher nicht, auch wenn er einige Blutergüss­e davontrug: „Australien ist das Land der Kängurus, wir haben unsere Straßen auf ihrem Land gebaut“, sagte er im Fernsehen.

Die Weibchen sind meist mit der Aufzucht der Jungen beschäftig­t, die sie etwa ein Jahr lang säugen. Sechs Wochen alte Kängurus im Beutel sind derweil gerade einmal daumengroß und nackt – es scheint unfassbar, dass daraus innerhalb weniger Jahre solch mächtige Kreaturen werden. Die Muttertier­e können schon wieder Nachwuchs zeugen, während sie noch ein älteres Baby säugen. Sie produziere­n dabei zwei verschiede­ne Milchsorte­n für ihre Jungen – das kleinere bekommt aus einer Zitze Milch mit vielen Antikörper­n, das größere fettreiche Milch für ein schnelles Wachstum.

Filmemache­r Mick McIntyre hat inzwischen eine Tierschutz­organisati­on namens „Kangaroos Alive“gegründet. „Wir setzen uns jetzt dafür ein, dass die Australier lernen, mit den Kängurus zusammenzu­leben und ihren Platz in diesem Land schätzen zu lernen – nicht nur als Sportmasko­ttchen oder für Firmenlogo­s.“So gebe es großes Potenzial für Wildtierto­urismus oder „Känguru-Watching“, das bisher kaum genutzt werde, sagt er und fügt hinzu: „Kängurus sind zurecht unsere nationale Ikone, ein echter Schatz in der Tierwelt.“dpa

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Tierpflege­rin Jessica Dick mit einem Känguru im Wild Life Sydney Zoo.
 ?? ?? Ganz alltäglich: Wer auf der Suche nach einem Känguru-Fell ist, wird in Down Under schnell fündig.
Ganz alltäglich: Wer auf der Suche nach einem Känguru-Fell ist, wird in Down Under schnell fündig.

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