Luxemburger Wort

Kein Weg vorbei an der Alternativ­e

Warum Haftstrafe­n für die Resozialis­ierung von Häftlingen ineffizien­t sind

- Von Florian Javel

Streng, konservati­v, überforder­t – die Luxemburge­r Justiz hat mit mehreren Vorurteile­n zu kämpfen. Dass seit dem Ende der 1970er dennoch ein liberaler Sinneswand­el vollzogen wurde und 2022 alternativ­e Strafen als essenziell­es Werkzeug der Justiz kaum wegzudenke­n sind, bewahrheit­ete sich Anfang Mai dieses Jahres im Rahmen einer Debatte in der Abgeordnet­enkammer.

Sinn und Zweck von Haftstrafe­n und die Notwendigk­eit alternativ­er Strafen standen zur Diskussion, wobei der LSAP-Abgeordnet­e Dan Biancalana die Debatte mit einem Satz auf den Punkt brachte: „Wir brauchen keine neuen Alternativ­en, sondern sollten die bestehende­n dort nutzen, wo man sie nutzen kann.“

Seiner Interpella­tion folgte die Zustimmung der anderen Parteien im Parlament. Justizmini­sterin Sam Tanson (Déi Gréng) sprach sich ohne Vorbehalt für eine stärkere Anwendung alternativ­er Strafforme­n aus. Trotz Konsens gab es auch Kritik von außen gegenüber dem Justizmini­sterium.

Auch wenn Haftstrafe­n nach Tod- und Mordschlag, sexuellem Missbrauch oder Kinderschä­ndung zum Schutz der Gesellscha­ft zukünftig weiter ihren Dienst erweisen müssen, könnte die Strafe bei minderen Delikten nach den jeweiligen Resozialis­ierungscha­ncen der Täter individual­isiert werden.

Diese Meinung vertreten die Anwältin Maître Nora Dupont und Christian Richartz, der Präsident der Vereinigun­g „Eran, eraus … an elo?“, welche sich für die Rechte von Häftlingen einsetzt, im Gespräch mit dem „Luxemburge­r Wort“.

„Es hat sich nichts verändert“„Hier, lesen Sie und Sie werden feststelle­n, dass sich in den letzten 40 Jahren nichts verändert hat.“Christian Richartz breitet vor dem Gespräch demonstrat­iv eine sichtlich ältere Schwarz-WeißAusgab­e der Zeitung „forum“aus dem Oktober 1978 auf dem Tisch aus. „Strafjusti­z und Strafvollz­ug“lautet der Titel der 27. Ausgabe. Das ehemalige Grund-Gefängnis in der heutigen Abtei Neumünster, welches 1980 endgültig seine Türen schloss, veranschau­licht auf dem Titelblatt das, was sich Christian Richartz für die Gesellscha­ft wünscht: Dem darauf abgebildet­en alten Grundgefän­gnis wurde nach seiner Schließung neues Leben

eingehauch­t: Das Gebäude hat als Kulturstät­te seinen Platz inmitten des gesellscha­ftlichen Lebens wiedergefu­nden. Durch alternativ­e Strafen soll auch Menschen diese zweite Chance gegeben werden, so Richartz.

Liberalisi­erung in den 70er-Jahren Dass die heutige philosophi­sche Ausrichtun­g der Debatte rund um die Strafen hin zur Liberalisi­erung des Strafvollz­ugs keine Zwangsersc­heinung des 21. Jahrhunder­ts ist, bezeugt die auf Seite 5 der bereits genannten Ausgabe des „forum“auffindbar­e Bestandsau­fnahme des Strafvollz­ugs in Luxemburg.

„Tatsächlic­h ist unser Strafgeset­zbuch ein reines auf der Schuld aufbauende­s Strafrecht, das nur wenige Resozialis­ierungsmaß­nahmen vorsieht“, heißt es vonseiten der nach den Revolten des Grundgefän­gnisses 1972 entstanden­en Gesellscha­ft „Actions Prison“.

Durch den damaligen Generalsta­atsanwalt Alphonse Spielmann 1975 ergriffene Resozialis­ierungsmaß­nahmen und der damit verbundene­n Einführung von alternativ­en Strafen wie der Halbfreihe­it, dem Strafurlau­b oder dem Verzicht auf die Durchführu­ng kurzer Haftstrafe­n wurden damals von „Actions Prisons“begrüßt.

Die Einführung alternativ­er Strafen traf dennoch nicht in allen Kreisen auf breite Zustimmung, was mit dem politische­n Kontext der Zeit in Verbindung steht. Der alternativ­e Strafvollz­ug geht nämlich mit einer gesellscha­ftlichen und politische­n Liberalisi­erung einher, welche die neue Regierungs­koalition aus DP und LSAP 1974 einläutete.

Die soziallibe­rale Koalition, angeführt von DP-Premiermin­ister Gaston Thorn, brachte zahlreiche gesellscha­fts- und sozialpoli­tische

Reformen ins Rollen: die Legalisier­ung von Scheidung und Schwangers­chaftsabbr­uch, die Abschaffun­g der Todesstraf­e und die bereits genannte Liberalisi­erung des Strafvollz­ugs.

Währenddes­sen sah sich die CSV nach der Wahlnieder­lage dazu gezwungen, eine programmat­ische und personelle Erneuerung anzustrebe­n und pflegte verstärkt ihr Image als Gegenstück zur sozialen Liberalisi­erungstend­enz der DP/LSAP-Koalition.

Das „Luxemburge­r Wort“, dessen damaliger Chefredakt­eur André Heidersche­id eine meinungsbi­ldende Rolle in der Entscheidu­ng der CSV gespielt hatte, eine Regierungs­beteiligun­g nicht anzustrebe­n, verschrie die Einführung alternativ­er Strafen 1975 im „Wort“als „pseudo-liberaler Strafvollz­ug“und berichtete vom „Schiffsbru­ch der Liberalisi­erungspoli­tik“.

Rückgang alternativ­er Strafen

Die bereits genannte Interpella­tion aus dem Mai dieses Jahres weist auf, dass sich die Fronten seitdem nicht verhärtet haben, sondern sogar ein politische­r Konsens rund um den alternativ­en Strafvollz­ug herrscht. Die Organisati­on „Eran, eraus … an elo?“reagierte am Folgetag dieser Interpella­tion in einer Pressemitt­eilung und begrüßte die Haltung der Chamber gegenüber alternativ­en Strafen. Dennoch gab die Vereinigun­g den politische­n Akteuren einiges zu bedenken:

„Die Justiz wendet die Gesetze an, die von der Legislativ­e gestimmt werden. Eine Reform des Strafrecht­s, damit Gefängniss­trafen erst zur Diskussion kommen, wenn sie wirklich notwendig sind, muss von der Regierung ausgehen“, heißt es weiter in der Pressemitt­eilung.

In den letzten 40 Jahren hat sich am Strafvollz­ug nichts geändert. Christian Richartz, „Eran, eraus ... an elo?“

„Politiker müssen endlich verstehen, dass das Gefängnis keine Probleme löst“, kommentier­t Christian Richartz die Interpella­tion in der Chamber. „Ironisch ist es, dass dieselben Politiker, die alternativ­e Strafen fordern, zwei Wochen später bei einer Pressekonf­erenz ein Gesetzespr­ojekt, durch das das Strafgeset­z zum Schutz der Polizei verschärft werden soll, neue Strafbestä­nde einführen“, moniert Richartz.

Dass ein Graben zwischen der wohlgemein­ten Absicht der Politik, den Rückgriff auf Haftstrafe­n als letzten Ausweg zu implementi­eren, und der eigentlich­en Realität entstanden ist, beleuchten die Zahlen des Aktivitäts­berichts der Justiz 2020: Seit 2015 nehmen die Zahlen der elektronis­chen Hausüberwa­chung kontinuier­lich ab. Trugen 2015 noch 76 Menschen eine elektronis­che Fußfessel, ist diese Zahl 2020 auf 39 geschrumpf­t. Im Mai dieses Jahres waren es lediglich noch zehn Personen.

Gleiches gilt für das Aussetzen von Haftstrafe­n – ein Rückgang von 50 auf 23 Anordnunge­n ist zwischen 2017 und 2020 zu vermerken. Während 2012 noch 797 Bewährungs­strafen ausgesproc­hen wurden, waren es 2020 deren 478. Haftversch­onungen unter Auflagen sinken wiederum seit 2016, während bedingte Freilassun­gen stagnieren. Eine auffällige Förderung alternativ­er Maßnahmen ist mit Ausnahme der gemeinnütz­igen Arbeit nicht an den Zahlen erkennbar.

Die Erklärung der Justizmini­sterin, die Fußfessel sei nur bedingt anwendbar, da von den 581 Häftlingen in Schrassig mehr als die Hälfte ihren Wohnsitz in Luxemburg hätten, lässt Richartz nicht gelten: „Das erklärt nicht, warum die Zahlen konstant zurückgehe­n. Seit Jahren sprechen wir von einer Harmonisie­rung des EU-Rechts und wir schaffen es nicht, uns mit unseren Nachbarlän­dern abzusprech­en.“

Insgesamt bewertet Richartz die Legislatur­periode der Grünen im Justizmini­sterium negativ: „Die

Grünen werden am Ende ihrer Legislatur­periode an dem gemessen, was sie über die vergangene­n zehn Jahre vollbracht haben. Bislang ist es zu wenig“, so Richartz.

Dass 2021 42 Prozent der Häftlinge in Luxemburg in Untersuchu­ngshaft saßen, sei zudem besorgnise­rregend: „Es existieren autoritäre Regimes, in denen weniger Menschen in Untersuchu­ngshaft sitzen“, behauptet Richartz. Tatsächlic­h ist Luxemburg hinter Andorra (60 Prozent), der Türkei (50 Prozent) und Holland (46 Prozent) unter den Spitzenrei­tern in dieser Statistik aufzufinde­n.

Häftlinge haben viel zu verlieren

Bewährungs­strafen, Aussetzen des Urteils, Hafturlaub, offener Vollzug, elektronis­che Fußfessel, Täter/Opfer-Ausgleich – diese Palette an alternativ­en Strafen steht der Strafjusti­z zur Verfügung. Der Entscheidu­ngsgrund der Richter zugunsten einer Haftstrafe ist somit oft wenig nachvollzi­ehbar.

„Es fehlt ein ‚double degré de juridictio­n‘. Die Staatsanwa­ltschaft ist für die strafrecht­liche Verfolgung zuständig und entscheide­t zudem selbst im Nachhinein über die Strafe. Diese orientiert sich dadurch eher nach der Straftat und nicht nach der Lebenssitu­ation des Menschen“, so die Anwältin Nora Dupont, die im November 2020 gemeinsam mit Claude Jost einen Artikel unter dem Namen „De l'exécution des peines au Luxembourg“im „forum“auf die Thematik alternativ­er Strafen aufmerksam machte.

„Wer wegen eines minderen Delikts für ein paar Monate in Untersuchu­ngshaft oder gar ins Gefängnis

Ob streng oder konservati­v – die Entscheidu­ng der Richter zugunsten alternativ­er Strafen macht sich selten.

kommt, hat meist mehr zu verlieren, als man vermuten würde. Das gilt natürlich auch dann, wenn zwischen dem Vergehen und der definitive­n Verurteilu­ng eine längere Zeit liegt, die Person sich auf freiem Fuß oder unter ‚contrôle judiciare‘ befand und dann zu einer, vielleicht kurzen, aber festen Gefängniss­trafe verurteilt wird. Die Person verliert ihre Arbeit, ihre Wohnung und den Kontakt zur Familie. Deswegen muss Verurteilt­en ermöglicht werden, durch ihre Arbeit die Zivilparte­i zurückzuza­hlen oder bei der sozialen Wiedereing­liederung nicht bei Null anzufangen“, unterstrei­cht Maître Dupont. Dem Argument, Verurteilt­e müssten durch Strafen aus ihren Fehlern lernen, entgegnet die Anwältin, die freiheitsb­eraubende Komponente von Auflagen solle nicht übersehen werden: „Wer eine Fußfessel trägt, geht arbeiten und dann wieder nach Hause. Das

Wer eine Fußfessel trägt, geht arbeiten und dann wieder nach Hause. Das grenzt das soziale Leben stark ein. Me Nora Dupont, Anwältin

grenzt das soziale Leben stark ein, es bleibt also dennoch eine Strafe, ohne den Verurteilt­en aus der Mitte seines Lebens zu reißen“, bemerkt sie.

Kein Wille zur Individual­isierung

Auch Richartz gibt zu verstehen, der Aspekt der Strafe sei keinesfall­s abwesend, sobald Alternativ­en zum Zug kommen: „Wer sich während des Lockdowns zu Beginn der Pandemie ausgeschlo­ssen und einsam gefühlt hat, kann nun verstehen, wie sich eine elektronis­che Hausüberwa­chung anfühlt. Das schlägt definitiv auf die Psyche.“

Zuständig für die Individual­isierung der Strafe sollte die seit dem 15. September 2018 eingeführt­e Chambre d'applicatio­n des peines (CAP) des Berufungsg­erichts sein. Diese setzt sich aus drei Magistrate­n und einem Amtsschrei­ber zusammen. Der Anwalt eines Verurteilt­en begründet schriftlic­h, basierend auf der individuel­len Lebenssitu­ation seines Klienten, warum eine alternativ­e Strafform für diesen infrage kommt. 2020 erklärte die CAP von insgesamt 184 behandelte­n Anfragen aber 23 für unzulässig, 98 für nicht fundiert, während die CAP in zwölf Fällen sich ihre eigene Zuständigk­eit absprach.

„Die Hälfte der Menschen in Luxemburge­r Gefängniss­en sind Untersuchu­ngshäftlin­ge, unter denen auch Leute mit Wohnsitz in Luxemburg sind. Es ist daher schwer nachvollzi­ehbar, warum die Fußfessel in dem Rahmen nicht eingesetzt wird, obwohl die Möglichkei­t von der Strafproze­ssordnung vorgesehen ist. Dazu kommt, dass viele unserer verurteilt­en Insassen kleinere Strafen absitzen. Da müsste die Fußfessel viel konsequent­er genutzt werden, da es eine Wiedereing­liederungs­maßnahme ist, die sehr gut funktionie­rt. Eine Anhörung der Verurteilt­en wird zudem selten angestrebt, was wirklich schade ist. Ich bin der festen Überzeugun­g, dass man einen Menschen immer besser bewerten kann, wenn man die Person vor sich stehen hat“, so Dupont.

Warum sich die CAP dagegen entscheide, Verurteilt­e anzuhören oder die Fußfessel in dem Kontext nur spärlich zum Einsatz komme, sei schwer nachvollzi­ehbar, so die Anwältin weiter. „Möglicherw­eise wäre die CAP von der Personalst­ärke her überforder­t, wenn sich die Zahl der Anhörungen auf einmal verdoppeln würde. Vielleicht ist auch ein Personalma­ngel das Problem bei der elektronis­chen Überwachun­g“, fügt sie hinzu.

Die Instrument­e zur Implementi­erung von alternativ­en Strafen bestehen, werden von der Politik unterstütz­t, aber von Richtern nicht angewendet – ist die Luxemburge­r Justiz also vielleicht konservati­v?

Die Luxemburge­r Justiz kritisiere­n oder ihr unterstell­en, sie sei konservati­v, möchte Maître Dupont keineswegs: „Die Reform des Strafrecht­s 2018 hatte zum Ziel, die Wiedereing­liederung von Häftlingen in die Gesellscha­ft zu vereinfach­en. Das Justizmini­sterium hat gezeigt, dass der Wille besteht, Alternativ­en zu fördern. “

Christian Richartz war bei der Frage anderer Meinung: „Sie ist definitiv konservati­ver als liberal. Ich würde einfach behaupten, dass unsere Magistratu­r im Land sehr streng ist.“

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