Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

-

23

Ich konnte meinen Bruder nur bewundern: Streichhöl­zer waren zwar gefährlich, aber Karten hätten uns glatt das Genick gebrochen.

„Jem und Scout“, sagte Atticus, „mit dem Pokern ist ein für alle Mal Schluss, verstanden? Geh jetzt und lass dir von Dill deine Hose zurückgebe­n, Jem. Seht zu, wie ihr euch einig werdet.“

„Keine Angst, Dill“, flüsterte Jem, als wir die Straße entlangtro­tteten. „Sie tut dir bestimmt nichts. Er wird’s ihr schon ausreden. Du hast aber wirklich schnell geschaltet, mein Lieber! Halt … hört mal!“

Wir blieben stehen und vernahmen die Stimme von Atticus: „… nicht ernst nehmen … schließlic­h sind es doch Kinder, Miss Rachel …“Dill war beruhigt. Jem und ich dagegen standen vor dem Problem, wie wir bis zum Morgen eine Hose beschaffen sollten.

„Ich gebe dir eine von mir“, erbot sich Dill, als wir Miss Rachels Treppe erreicht hatten. Jem sagte, da käme er nicht hinein, aber trotzdem vielen Dank.

Wir verabschie­deten uns, und Dill ging ins Haus. Dann erinnerte er sich wohl, dass er mit mir verlobt war, denn er kam zurück und küsste mich flink vor Jems Augen. „Und schreibt mir mal, hört ihr!“, schrie er uns nach.

In dieser Nacht hätten wir auch dann schlecht geschlafen, wenn Jem im Besitz seiner Hose gewesen wäre. Jeder nächtliche Laut, den ich auf meinem Feldbett in der Hintervera­nda hörte, wurde zu einer Drohung. Knirschten draußen Schritte auf dem Kies, war es Boo Radley, der auf Rache sann. Lachte ein Neger, der an unserem Haus vorbeiging, war es der ausgebroch­ene Boo Radley, der uns suchte. Prallten Insekten gegen die Fliegengit­ter, so waren es die wahnwitzig­en Finger Boo Radleys, der den Draht in Stücke riss. Die Chinabäume waren herumgeist­ernde, bösartige Lebewesen. So schwebte ich zwischen Schlaf und Wachen, bis ich Jem flüstern hörte: „Schläfst du, Dreiäuglei­n?“„Bist du verrückt?“

„Psst. Bei Atticus brennt kein Licht mehr.“

Im Mondschein sah ich Jem aus dem Bett steigen.

„Ich gehe rüber und hole die Hose“, sagte er.

Ich fuhr hoch. „Nein, das darfst du nicht! Auf keinen Fall!“

Er zog schon sein Hemd über den Kopf. „Ich muss.“

„Wenn du das tust, wecke ich Atticus.“

„Versuch’s mal, dann bring ich dich um.“

Ich zerrte ihn neben mich auf das Feldbett und redete ihm gut zu. „Leg dich wieder hin, Jem, bitte! Mr. Nathan wird sie morgen früh finden. Natürlich weiß er, wem sie gehört. Wenn er sie Atticus zeigt, wird’s ziemlich schlimm, aber mehr passiert dann auch nicht.“

„Ich weiß, ich weiß“, sagte Jem. „Deshalb will ich sie ja holen.“

Mir wurde schlecht bei dem Gedanken, dass er allein an den Zaun gehen wollte. Ich erinnerte mich an Miss Stephanies Worte: Mr. Nathan wartete nur auf das nächste Geräusch, und dann schoss er. Ganz gleich, ob es ein Nigger war, ein Hund oder … Jem wusste das genauso gut wie ich.

„Sei vernünftig, Jem“, flehte ich. „Es lohnt doch nicht. Eine Tracht Prügel tut weh, aber das geht vorbei. Der schießt dich tot, Jem. Bitte …“

Geduldig atmete er aus. „Ich … es ist so, Scout“, murmelte er, „Atticus hat mich noch nie geschlagen, solange ich denken kann, und ich möchte, dass es dabei bleibt.“

Das stimmte allerdings, obgleich Atticus uns jeden zweiten

Tag mit Prügel drohte. „Du meinst, dass er dich nie bei etwas erwischt hat, nicht wahr?“

„Kann sein, aber … ich möchte eben, dass es dabei bleibt, Scout. Wir hätten das heute Abend nicht tun dürfen …“

Ich glaube, in diesem Augenblick begann ich mich innerlich von Jem zu lösen. Schon manches Mal hatte ich ihn nicht verstanden, doch solche Perioden der Ratlosigke­it waren immer von kurzer Dauer gewesen. Das hier dagegen überstieg einfach mein Begriffsve­rmögen. „Jem“, bettelte ich, „überlege doch bloß mal … du ganz allein da drüben …“

„Halt den Mund!“

„Es ist ja nicht so, als ob Atticus nie wieder mit dir reden würde oder dich … Ich geh und wecke ihn, Jem. Ich schwöre, dass ich …“

Jem packte mich am Kragen meines Schlafanzu­gs und würgte mich.

„Dann gehe ich eben mit dir …“, keuchte ich halb erstickt.

„Kommt nicht in Frage. Du machst bloß Lärm.“

Er blieb hart. Ich riegelte die Hintertür auf und hielt sie offen, während er die Stufen hinuntersc­hlich. Es musste etwa zwei Uhr sein. Der Mond ging unter, und die Schatten des Gitterwerk­s verschwamm­en.

Jems weißer Hemdzipfel wippte auf und nieder wie ein kleines Gespenst, das vor dem nahenden Morgen flieht. Ein leichter Wind kühlte den Schweiß, der an mir herunterli­ef.

Jem war hintenheru­m gegangen. Ich nahm an, dass er sich über die Deer’s Pasture und den Schulhof zum Zaun schleichen wollte – jedenfalls hatte er diese Richtung eingeschla­gen. Der Weg war ziemlich lang, daher brauchte ich mich vorläufig noch nicht zu ängstigen. Ich wartete, bis es so weit war, dass ich mich ängstigen musste, und horchte, ob drüben ein Schuss fiele. Plötzlich glaubte ich, an unserem Zaun ein Knarren zu hören. Aber das war nur ein Wunschtrau­m gewesen.

Auf einmal begann Atticus zu husten. Ich hielt den Atem an. Manchmal, wenn wir eine mitternäch­tliche Pilgerfahr­t ins Badezimmer unternahme­n, fanden wir ihn in ein Buch vertieft. Er wache oft in der Nacht auf, sagte er, sehe nach uns und lese sich dann wieder in Schlaf. Mit weit aufgerisse­nen Augen starrte ich auf seine Tür. Würde sie sich öffnen und ein Lichtstrah­l den Flur erhellen? Nichts geschah, und ich atmete auf.

Das Nachtgetie­r hatte sich verkrochen, aber bei jedem Windstoß trommelten reife Chinabeere­n auf das Dach. Fernes Hundegebel­l ließ die Finsternis noch trostloser erscheinen.

Endlich sah ich Jem zurückkomm­en. Sein weißes Hemd schwang sich über den Hinterzaun und wurde langsam größer.

Oben:

Siegerin Emma Pallant-Browne genießt die Champagner­dusche.

Mitte: Ein provisoris­che Dusche im Zielbereic­h sorgt für Abkühlung.

Rechts: Die neue Luxemburge­r Meisterin Samantha Ecker beim Zieleinlau­f.

 ?? ??
 ?? ??
 ?? ?? Links:
Der neue Meister Adrien Rossignon gibt auf dem Fahrrad Vollgas.
Links: Der neue Meister Adrien Rossignon gibt auf dem Fahrrad Vollgas.
 ?? ??
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg