Ein Land droht unregierbar zu werden
Die Opposition könnte die neue französische Nationalversammlung dauerhaft blockieren
Wie sehr sich die politische Szene in Frankreich geändert hat, war bereits am Morgen nach den Parlamentswahlen zu sehen. Während das Lager von Präsident Emmanuel Macron den Kater auskurierte, den ihm der erdrutschartige Verlust der absoluten Mehrheit bereitet hatte, sprach Marine Le Pen gestern strahlend in jedes Mikrofon. Die Rechtspopulistin, die vor acht Wochen noch die Stichwahl um das Präsidentenamt verloren hatte, ist nun die Überraschungssiegerin der Parlamentswahlen. Mit 89 Sitzen wird ihr einwanderungsfeindlicher Rassemblement National die größte Oppositionsfraktion und kann zum ersten Mal wichtige Posten auf nationaler Ebene übernehmen.
Le Pen beanspruchte bereits den Vorsitz im mächtigen Finanzausschuss und einen der Vizepräsidentenposten der Assemblée Nationale. „Wenn Emmanuel Macron glaubt, dass er weiter machen kann, was er will, dann ist die Antwort Nein“. Ein zweites Nein schallte dem Staatschef vom Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon entgegen, dessen Nupes-Bündnis aus vier Parteien zusammen 131 Abgeordnete ins französische Unterhaus schickt. Doch wie sich abzeichnet, werden die Parteien gegen den Willen Mélenchons keine gemeinsame Fraktion bilden.
Die beiden großen Blöcke an den Rändern der neuen Nationalversammlung sind beide europaskeptisch und deutschlandfeindlich. Dazwischen liegt wie ein Puffer in Europagelb Macrons Bündnis Ensemble,
das allerdings zum Regieren nicht groß genug ist. Auf 245 von 577 Abgeordneten kommt das Präsidentenlager und verfehlt damit die absolute Mehrheit um mehr als 40 Sitze.
Die Regierungsfähigkeit des Staatschefs hängt nun ausgerechnet an einer Partei, die er in den vergangenen Jahren systematisch erniedrigt hatte. Die konservativen Républicains, die in der neuen Nationalversammlung 64 Abgeordnete stellen, könnten die neuen Mehrheitsbeschaffer des Staatschefs werden. Ex-Minister Jean-François Copé brachte bereits einen „Pakt“mit den „Macronisten“ins Spiel. „Die republikanische Rechte muss unser Land retten“, forderte er.
Doch Parteichef Christian Jacob wiegelte ab und versicherte, dass die Republikaner, die bei den Präsidentschaftswahlen unter fünf Prozent erzielten, in der Opposition bleiben wollten. Aber wer die Partei kennt, weiß, dass über diese Frage noch heftige Diskussionen geführt werden dürften. Am Montag kam die Parteiführung bereits zu einer ersten Strategiesitzung zusammen.
Rache der Konservativen
Mit einem Nein zu einer Zusammenarbeit könnten sich die langjährige Regierungspartei dafür rächen, dass Macron sie systematisch ausgeblutet hat. Gleich mehrere hochrangige Mitglieder warb der Staatschef in den vergangenen Jahren ab, darunter seine beiden Regierungschefs Edouard Philippe und Jean Castex sowie die beiden Minister Bruno Le Maire und Gérald
Darmanin. Le Maire signalisierte bereits Dialogbereitschaft an seine frühere Partei. „Wir werden die Kultur des Kompromisses entwickeln müssen“, sagte er im Fernsehen. Sogar eine Art Koalitionsvertrag nach deutschem Vorbild wird von Experten nicht ausgeschlossen.
Doch in Frankreich ist diese Kultur des Dialogs weitgehend unbekannt. Macron regierte in den vergangenen fünf Jahren selbstherrlich im Elysée, ohne sich groß um seine eigene Partei oder die Opposition zu scheren. Mit mehr als 300 Abgeordneten in der Nationalversammlung war La République en Marche lediglich ein Abnickverein für den Präsidenten.
Dass Macron nun seinen Führungsstil radikal ändert, ist wenig wahrscheinlich. Zwar sagte er vor den Präsidentschaftswahlen: „Ich habe keine Lust, einfach fünf Jahre weiterzumachen. Was passieren muss, ist eine Neuerfindung, ein neuer Ehrgeiz.“Den Worten folgten nach seiner Wiederwahl allerdings keine Taten. Der Staatschef zog sich zurück und mischte sich auch nicht in den für ihn so wichtigen Parlamentswahlkampf ein.
Nun bekam der 44-Jährige die Quittung präsentiert. Wenn es ihm nicht gelingt, mit den Républicains zusammenzuarbeiten, bleibt ihm nur noch die Möglichkeit, je nach Projekt auf wechselnde Mehrheiten zu setzen. Der sozialistische Premierminister Michel Rocard tat das von 1988 bis 1991 – allerdings mit mehr eigenen Abgeordneten und einer Opposition, die kompromissbereit war. In der neuen Nationalversammlung ist das nur bei einigen wenigen Abgeordneten der Sozialisten sowie einem Teil der Republikaner zu erkennen. Mélenchon erteilte einer Zusammenarbeit bereits eine Absage: „Wir sind nicht von derselben Welt“, sagte der 70-Jährige.
Wer Macrons Szenarien durchspielt, kommt deshalb immer wieder auf das Wort zurück, das am Montag auf den Titelseiten fast aller Zeitungen stand: „Unregierbar“. Schon im Juli will das Linksbündnis Nupes ein erstes Misstrauensvotum gegen die Regierung einbringen. Wie der Präsident mit den neuen Mehrheiten den Haushalt verabschieden und Gesetze durchs Parlament bringen will, ist völlig unklar. Schon wird über Neuwahlen in einem Jahr spekuliert.