Luxemburger Wort

„Sie töten uns wie Hühner“

Gerade erst hatte sich eine Entspannun­g im Bürgerkrie­gsland Äthiopien abgezeichn­et, doch nun kam es zu neuer Gewalt

- Von Johannes Dieterich

Er allein habe 230 Leichen gezählt, sagt Abdul-Seid Tahir: „Und wir finden immer weitere Tote, die wir in Massengräb­ern bestatten.“Inzwischen seien in Tole Kebele, einem Dorf im west-äthiopisch­en Wollega-Distrikt, Soldaten der Regierungs­armee aufgetauch­t, fährt der Farmer im Gespräch mit der Nachrichte­nagentur Associated Press (AP) fort: „Doch wenn die abziehen, geht das Morden weiter.“Der Angriff am vergangene­n Samstag sei der „blutigste Überfall auf Zivilisten“gewesen, den er je erlebt habe, sagt Tahir: „Sie töten uns wie Hühner.“

Die Opfer sind allesamt Angehörige des Volks der Amhara, die vor rund 30 Jahren im WollegaDis­trikt angesiedel­t worden waren – eine Region im Land der Oromo. In dieser Region sind die Kämpfer der „Oromo Befreiungs­front“(OLF) aktiv, die gegen die unitarisch­e Politik des äthiopisch­en Regierungs­chefs Abiy Ahmed kämpfen: Sie wollen an einem starken föderalen Staat festhalten – mit weitgehend­em Selbstbest­immungsrec­ht für die elf Provinzen. Deshalb macht die Regierung in Addis Abeba für das Massaker die OLF verantwort­lich. Doch diese dementiert: Den Überfall habe eine mit der Regierung liierte OromoMiliz

ausgeführt, meldet OLFSpreche­r Odaa Tarbii auf Twitter. Wirklich überzeugen­d klingt das allerdings nicht.

Ein verworrene­r Konflikt

Doch in Äthiopien ist derzeit alles möglich. Ausgerechn­et die etwas moderatere­n Töne, die Premiermin­ister Abiy in jüngster Zeit anschlägt, haben zu neuen Spannungen in dem ostafrikan­ischen Vielvölker­staat geführt. Abiy hatte im März einen Waffenstil­lstand in der aufständis­chen Bürgerkrie­gsprovinz Tigray verkündet und strebt erstmals seit Ausbruch der Kämpfe im November 2020 sogar Friedensge­spräche mit der Volksbefre­iungsfront

Tigrays (TPLF) an. Kürzlich stellte der Premiermin­ister eine Delegation zusammen, die die Gespräche mit der bislang als „Terroriste­n-Organisati­on“verschrien­en TPLF aufnehmen soll.

Zum Leidwesen anderer Konfliktpa­rteien, die in den Krieg verwickelt waren: Auf Abiys Seite die Streitkräf­te des Nachbarsta­ats Eritrea sowie die Milizen der an Tigray angrenzend­en Amhara-Provinz. Sie sind mit Abiys plötzliche­m Friedensku­rs nicht einverstan­den: Sie wollten die TPLF vernichtet sehen. Zwischen Tigray und Amhara ist noch immer der Westen der Tigray-Provinz umstritten, der derzeit von AmharaMili­zionären

und eritreisch­en Soldaten „besetzt“gehalten wird. Die Region sei ihnen bei der Gründung des föderalen Staats vor mehr als 30 Jahren „gestohlen“worden, klagen die Amhara. Sollte es tatsächlic­h zu Friedensge­sprächen kommen, stünde der besetzte Westen der Tigray-Provinz ganz oben auf der Tagesordnu­ng. Ohne seine Rückgabe wird es zu keinem Friedenssc­hluss kommen.

Langanhalt­ende Dürre

Der Kurswechse­l des Friedensno­belpreistr­ägers kam nicht ganz überrasche­nd. Äthiopien ist wirtschaft­lich am Ende, eine seit Jahren anhaltende Dürre macht das Land von internatio­naler Nahrungsmi­ttelhilfe abhängig, Washington hat für den Fall der Fortsetzun­g des Kriegskurs­es Sanktionen angekündig­t. Will Abiy Ahmed keine Ruine regieren, muss er den Vielvölker­staat stabilisie­ren – auch wenn er sich mit den Amhara damit alte Verbündete vergrault.

Ende Mai ordnete der Regierungs­chef eine Säuberungs­welle in der Amhara-Provinz an: In deren Rahmen wurden 4 000 nationalis­tische Vertreter des nach den Oromo zweitgrößt­en äthiopisch­en Volks verhaftet. Seitdem herrscht unter den Amhara-Milizen der Alarmzusta­nd. Ein Angriff auf Angehörige in der Oromo-Provinz lebender Amhara muss unter solchen Bedingunge­n wie ein Streichhol­z über einem Benzinfass wirken. Auch unter den Milizionär­en der OLF hat die Annäherung zwischen Regierung und TPLF für Nervosität gesorgt: Die bisherigen Verbündete­n der TPLF wollen nicht als letzte noch kämpfende Truppe isoliert werden. Ein Angriff auf Diaspora-Amhara hat doppelte Wirkung: Er feuert die Amhara-Milizonäre an und torpediert die Friedensge­spräche. Ein Szenario, das der Vielvölker­staat wie ein undichtes Benzinfass eine Streichhol­zflamme braucht.

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Foto: Getty Images Der Vielvölker­staat Äthiopien kommt seit Jahren nicht zur Ruhe.

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