Kolumbien wagt den Schritt nach links
Gustavo Petro gewinnt überraschend klar die Stichwahl und steht vor Umbau von Staat und Wirtschaft
Bogotá. An diesem Wahlabend in Kolumbien, der so überraschend eindeutig endete, dominierte letztlich ein Wort: historisch. Es wurde fast inflationär gebraucht für dieses Wahlergebnis, das das südamerikanische Land verändern wird und das eine große Chance, aber auch riesige Herausforderung für den Sieger Gustavo Petro beinhaltet. Historisch, denn die Linke kommt nach 200 Jahren erstmals an die Macht, historisch auch, weil ein ehemaliger Guerillero in einem Land regieren wird, das über ein halbes Jahrhundert unter einem Bürgerkrieg litt. Und eine Premiere ist auch, dass mit Francia Márquez eine Frau und dazu noch eine Schwarze und frühere Hausangestellte Vizepräsidentin wird.
Die 40-Jährige wurde zum großen Phänomen des Wahlkampfes und zur Stimmenbringerin für Petro.
Sie brachte die Menschen an die Urne, die sonst dem System den Rücken zuwenden: Die Afrokolumbianerinnen und -kolumbianer, die Menschen der verarmten Regionen, die von Gewalt erschüttert werden. Sie mobilisierte diejenigen, die sie „die Nadies“nennt, die „Niemands“, die 40 Prozent Armen der 50 Millionen Kolumbianerinnen und Kolumbianer. „Wir werden diese Nation versöhnen, wir werden uns entschlossen für den Frieden und soziale Gerechtigkeit einsetzen“, verspricht sie.
„Das ist der Sieg des Volkes“, sagte Petro in seiner ersten Rede nach dem Wahlsieg in Bogotá. Eine knappe Dreiviertelstunde dauerte diese erste Ansprache als gewählter Präsident. Sie erhielt Versöhnliches, Überraschendes und Bekanntes. Als erstes forderte er den Generalstaatsanwalt auf, alle Jugendlichen freizulassen, die infolge der sozialen Proteste von 2021 festgenommen wurden. Ein deutlicher Hinweis auf seinen politischen Kurs und an diejenigen, denen er seinen Wahlsieg in großen Teilen zu verdanken hat. Den jungen Kolumbianern.
„Jetzt kehrt endlich auch in Kolumbien demokratische Normalität ein. Hier haben die Linken noch nie regiert. Es war nun mal an der Zeit“, sagt Yann Basset, Politologe an der Universidad del Rosario in Bogotá. Aber es werden vier anspruchsvolle Jahre. Denn Petro will fast alles anders machen als seine Vorgänger. Das herausforderndste Ziel dabei ist, sein Land zum Vorreiter einer modernen Klimapolitik
in Lateinamerika zu machen. Aber das beinhaltet, Hand an die ökonomischen Fundamente Kolumbiens zu legen: den Öl- und Kohleexport.
Angst vor zweitem Venezuela
Petros Sieg schürt massive Ängste bei Unternehmern, die fürchten, dass er aus Kolumbien ein zweites Venezuela machen will. Er wird in den kommenden vier Jahren also Hoffnungen erfüllen und Ängste zerstreuen müssen. Es ist ein politischer Spagat, an dem man leicht scheitern kann. In Chile, wo der Linke Gabriel Boric seit 100 Tagen regiert, kann Petro sehen, wie schwer es ist, die großen Ansprüche der Menschen zu erfüllen, wenn man die politischen und wirtschaftlichen Eliten gegen sich hat.
Petro müsse nun beweisen, dass er „Sozial- und Wirtschaftspolitik zusammen denken“könne, sagt Florian Huber, Repräsentant der Heinrich-Böll-Stiftung in Bogotá. Petro müsse vom „Besserwisser zum Bessermacher“werden, unterstreicht Huber im Gespräch und spielt damit auf den Ruf des künftigen Präsidenten an, arrogant und beratungsresistent zu sein.
Gustavo Petro hat mehr als ein Vierteljahrhundert versucht, seinen Weg an die Spitze Kolumbiens vorzubereiten. Kenner und kritische Begleiter nennen ihn einen „unermüdlichen Starrkopf“, der an seinen Zielen festhält, auch wenn sie unerreichbar erscheinen. Petro blickt bereits auf eine lange Karriere als Politiker zurück, er war nicht nur Bürgermeister der Hauptstadt Bogotá (2012 bis 2015), sondern auch fast 20 Jahre Senator. Ins Präsidentenamt schaffte er es nun im dritten Anlauf. keh
Die „Niemands“des Landes gingen zur Wahl.