Dokumentarmärchen ohne Happy End
Calle Fuhrs „Gipfelstürmer“im Kasemattentheater hinterlässt einen gemischten Beigeschmack
Calle Fuhrs „Gipfelstürmer“– eine Mischung aus Dokumentartheater und Geschichtsdrama – erzählt wie sich aus ein paar liberalen Ideen eine völlig neue Wirtschaftstheorie entwickelte, die sich bis heute weltweit durchsetzten konnte. Das tut das Stück auf teils humoristische, ironische Art und Weise, teils auch in belehrendem Ton. Die Produktion des Kasemattentheaters, eine Inszenierung von Marco Damghani, versteht sich selbst als „Märchen des Neoliberalismus“– ein Märchen ohne Happy End.
Nach einem interaktiven Intro mit Philippe Thelen, während dem bereits ostentativ auf den Missstand der aktuellen Zeit hingewiesen wird, führt uns das Stück chronologisch durch die Geschichte der neu entwickelten Wirtschaftstheorie.
Begonnen bei der Mont Pèlerin Society, die 1947 von Friedrich August von Hayek gegründet wurde, über die US-Interventionen in Chile im Jahr 1973, bei denen versucht wurde, die Wahl des Sozialisten Salvador Allendes zu verhindern und den Ruf links ausgerichteter Parteien zu schädigen, bis hin zu Arnold Schwarzenegger – Paradebeispiel für das Ausleben des amerikanischen Traums in einer, vom Markt regulierten Welt.
Breites Figurenrepertoire
Dabei schlüpfen Nora Zrika, Pitt Simon und Philippe Thelen immer wieder in neue Rollen: Friedrich August von Hayek, Milton Friedmann, Margaret Thatcher, Karl Popper und Arnold Schwarzenegger gehören ebenfalls zu diesem breiten Figurenrepertoire, was im Hinblick auf den komplexhistorischen Gehalt des Stücks auch notwendig ist.
Der Wechsel zwischen den Figuren wird meistens durch einen simplen Kostümwechsel (Franziska Kirschner) oder das Anlegen eines Accessoires verdeutlicht. Dennoch stehen Zrika und Simon in erster Linie als die beiden, gegen den Sozialismus ankämpfende „Gipfelstürmer“Friedrich August von Hayek und Milton Friedmann auf der Bühne.
Um dem Publikum den Aufstieg des Neoliberalismus zu veranschaulichen, ihm vor Augen zu führen, was alles schiefgelaufen ist und welche Fehlentscheidungen getroffen wurden, spielen sich auf der Bühne keineswegs nur unterschiedliche, aneinandergereihte Szenen ab. Es wird stets erklärt und belehrt, damit deutlich wird, dass fundamentale (Neo)Liberalisten ebenso engstirnig sind, wie andere radikale Weltanschauungen.
Hierbei hilft die, an einer der Seitenwände der Bühne fixierten Pinnwand, auf der sowohl Jahreszahlen als auch jede Menge Fotos von Politikern und Wirtschaftswissenschaftlern, aber auch mehr oder weniger unzusammenhängende Bilder hängen. Diese werden im Laufe der Inszenierung von den unterschiedlichen Schauspielenden mit einem roten Faden miteinander verknüpft. Dieser Prozess wird auf der Bühne ebenfalls mit einer Kamera verfolgt und an eine kleine Leinwand im Hintergrund projiziert.
„Gipfelstürmer“ist ein faktisches Stück. Es spielt allerdings mit fiktionalen Elementen und Einschüben,
um so zur Schau zu stellen, wie sich die neoliberalen Ideen allmählich bei einflussreichen Personen, bei Forschenden und bei Politikerinnen und Politiker einschlichen. Es zeigt, wie diese immer radikaler wurden und jegliche sozialistische Grundgedanken strikt ablehnten, denn „Kollektivismus ist die Einstiegsdroge in den Kommunismus“.
Zu einfach gestrickt
Die Feststellung, dass der Neoliberalismus und der Kapitalismus Schuld an vielen Ungerechtigkeiten in der heutigen Welt tragen – „Die ganze Katastrophe der Welt hat mit dem Neoliberalismus zu tun“, heißt es gleich zu Beginn – , ist weder neu noch revolutionär. Und leider gelingt es dem Stück nur bedingt, über diesen plakativen Kerngedanken hinauszudenken, sodass Calle Fuhrs „Gipfelstürmer“im Grunde von der Thematik
her etwas flach und einfallslos bleibt; es kann schlichtweg keinen wirklich neuen Beitrag leisten.
Dennoch verdeutlicht insbesondere das Ende der Inszenierung, wie verheerend und ausbeuterisch die Spätfolgen des neoliberalistisch-kapitalistischen Systems sind. Wenn Philippe Thelen als (zurecht) verbitterter LieferandoMitarbeiter dem bereits verstorbenen Milton Friedmann eine leere Pizzaschachtel dahin wirft, nach Trinkgeld verlangt und energisch in den Raum schreit: „Wir verdienen acht Euro die Stunde, wir sind frei!“, stellt er nicht nur Friedmann an den Pranger, sondern auch die gesamte Gesellschaft, die von einer Krise in die nächste rudert.
Speziell Familien, die in relativer Armut leben, Geringverdiener und auch junge Menschen, die trotz Ausbildung oder Studium (freiwillig oder unfreiwillig) schlecht bezahlte Jobs ausüben und deren Gehalt geradeso reicht, um sich über Wasser zu halten, dürften sich an dieser Stelle fühlen, als ob man ihnen aus der Seele sprechen würde.
Solchen demonstrativ gesellschaftskritischen Szenen stehen sarkastische Passagen diametral gegenüber; wie etwa der Videoclipdreh mit Arnold Schwarzenegger – gespielt von Nora Zrika – bei dem er für den „American Dream“plädiert und meint, dass jeder, wirklich jeder den auch realisieren könne.
Fehlende Spannung
Trotz humorvollen Einschüben, kritischen Bemerkungen und energischer schauspielerischer Leistung, fehlt dem Dokumentarstück, bei dem die ständig auftretende Pizza beinahe als Metapher für den Neoliberalismus verstanden werden kann, dennoch etwas Spannung.
Schließlich ist Calle Fuhrs „Gipfelstürmer“ebenfalls die Geschichte einer Gruppe utopischer Ökonomen und Politiker, die zwar auf eine bessere, gerechtere Welt hofften, doch vor Tatsachenblindheit, Egoismus, Größenwahnsinn und der falschen Umsetzung neoliberaler Ideen den Grundstein für unsere kaputte Welt und Gesellschaft von heute legten. Und ob es für diese jemals ein Happy End geben wird, steht wohl in den Sternen.
Das Stück wird noch heute, am 22. und 24. Juni um 20 Uhr im Kasemattentheater aufgeführt.
www.kasemattentheater.lu