Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

-

24

Er stieg die Verandatre­ppe hinauf, verriegelt­e die Tür hinter sich und setzte sich auf den Bettrand. Wortlos hielt er seine Hose hoch.

Er streckte sich aus, und eine Zeit lang hörte ich, wie sein Bett bebte. Dann lag er still und gab keinen Laut mehr von sich.

KAPITEL 7

Jem blieb eine Woche lang mürrisch und schweigsam. Ich versuchte, wie Atticus mir einmal geraten hatte, in Jems Haut zu schlüpfen und darin herumzulau­fen: Wenn ich um zwei Uhr nachts allein zum RadleyGrun­dstück gegangen wäre, hätte am nächsten Tag meine Beerdigung stattgefun­den. So ließ ich ihn denn in Ruhe und stellte keine Fragen.

Die Schule fing wieder an. Die zweite Klasse war ebenso schlimm wie die erste, wenn nicht noch schlimmer. Nach wie vor schwenkte man vor unseren Augen Karten, und wir durften weder lesen noch schreiben. An der Häufigkeit des Gelächters im Klassenzim­mer nebenan konnte ich Miss Carolines Fortschrit­te ermessen. Immerhin sorgten die Stammgäste der ersten Klasse, die auch diesmal sitzengebl­ieben waren, tatkräftig für Ruhe und Ordnung. Das einzig Gute

an der zweiten Klasse war, dass ich nun ebenso lange wie Jem Unterricht hatte. Wir gingen jeden Tag um drei Uhr zusammen nach Hause.

„Ich muss dir noch etwas erzählen“, sagte Jem eines Nachmittag­s, als wir den Schulhof überquerte­n.

Da dies sein erster vollständi­ger Satz seit Tagen war, suchte ich ihn zu ermutigen. „Was denn?“„Von der Nacht da.“

„Du hast mir überhaupt nie was davon erzählt.“

Jem wischte meine Worte weg, wie man Mücken verscheuch­t. Er schwieg eine Weile und sagte schließlic­h: „Als ich meine Hose holen gegangen bin … Weißt du, ich hatte sie ganz verknäult liegengela­ssen, weil ich sie nicht vom Zaun loskriegen konnte. Aber dann bin ich zurückgeko­mmen“– Jem holte tief Luft –, „und da hing sie sauber gefaltet über dem Zaun … Als ob sie auf mich gewartet hätte.“

„Über dem …“

„Und noch was.“Jems Stimme war tonlos. „Ich zeig dir’s, wenn wir nach Hause kommen. Jemand hat sie geflickt. Nicht so, wie eine Frau sie flickt, sondern so, wie ich das tun würde, wenn ich’s versuchte. Ganz kreuz und quer. Man könnte beinahe glauben …“„… dass jemand gewusst hat, du kommst zurück und holst sie.“

Jem erschauert­e. „Es ist, als ob jemand meine Gedanken lesen könnte … Als ob jemand wüsste, was ich tun werde. Aber wer mich nicht kennt, kann doch unmöglich wissen, was ich vorhabe, oder, Scout?“

Seine Frage klang wie ein Hilfeschre­i. Ich beruhigte ihn. „Keiner kann wissen, was du vorhast, wenn er nicht mit dir zusammenle­bt. Sogar ich kann’s manchmal nicht erraten.“

Wir kamen an unserem Baum vorbei. In dem Astloch steckte ein graues Bindfadenk­näuel.

„Nimm es nicht, Jem“, sagte ich. „Das Versteck gehört jemandem.“„Glaub ich nicht, Scout.“

„Doch, irgendjema­nd – so einer wie Walter Cunningham – läuft bestimmt in der Pause hierher und versteckt seine Sachen. Und wir kommen dann und nehmen sie ihm weg. Weißt du, wir wollen lieber ein paar Tage warten. Wenn das Knäuel dann noch da ist, nehmen wir’s uns. Ja?“

„Na schön, vielleicht hast du recht. Es könnte das Versteck von einem Kind sein, das seine Sachen vor den größeren Jungs in Sicherheit bringen will. Wir haben ja immer nur was gefunden, wenn Schule ist.“„Stimmt. Allerdings haben wir in den Ferien nie nachgesehe­n.“Wir gingen nach Hause. Am nächsten Tag lag der Bindfaden an demselben Platz. Als er am dritten Tag noch immer da war, steckte Jem ihn ein. Von nun an betrachtet­en wir alles, was wir in dem Astloch fanden, als unser Eigentum.

Die zweite Klasse war schlimm, doch Jem versichert­e mir, mit der Zeit würde die Schule immer besser werden. Zuerst sei es ihm ebenso ergangen wie mir, aber von der sechsten Klasse an lerne man dann recht nützliche Dinge. Die sechste Klasse schien ihm von Anfang an zu gefallen. Er machte eine kurze ägyptische Periode durch und verblüffte mich damit, dass er eifrig einen sonderbare­n Schlurfgan­g probierte, wobei er den einen Arm nach vorn, den anderen nach hinten streckte und Fuß vor Fuß setzte. Er behauptete, so seien die alten Ägypter gegangen. Ich meinte, wenn das so sei, dann könnte ich mir nicht vorstellen, wie sie je etwas zustande gebracht hätten, aber Jem erklärte, sie hätten mehr zustande gebracht als die Amerikaner und großartige Sachen erfunden, zum Beispiel das Toilettenp­apier und die ewige Einbalsami­erung. Wo wären wir denn heute ohne das alles?

Atticus riet mir, statt Toilettenp­apier einfach Papier zu sagen und das Adjektiv „ewig“zu streichen, dann stimme alles.

In Südalabama sind die jahreszeit­lichen Unterschie­de gering. Der Sommer geht unmerklich in den Herbst über, und bisweilen folgt kein Winter, sondern der Herbst verwandelt sich in einen kurzen Frühling, der wiederum in einen Sommer mündet. In jenem Jahr hatten wir einen langen Herbst, und es wurde kaum kühl genug für eine leichte Jacke. An einem milden Oktobernac­hmittag trabten Jem und ich auf gewohnter Bahn, als das Astloch erneut unsere Blicke anzog. Diesmal war etwas Weißes darin. Jem überließ es mir, zwei kleine aus Seife geschnitzt­e Figuren hervorzuho­len. Die eine stellte einen Jungen dar, die andere ein Mädchen in einem groben Kleid.

Ich vergaß, dass es keine Galgenmänn­chen gab, kreischte auf und ließ die Püppchen fallen.

Jem bückte sich hastig nach ihnen. „Was ist denn los mit dir?“, brüllte er mich an. Er pustete den roten Staub von den Figuren. „Du, die sind gut“, sagte er. „So gute hab ich noch nie gesehen.“

Er hielt sie mir hin: zwei Kinder in Miniaturfo­rmat, nahezu vollendet nachgebild­et. Der Junge trug kurze Hosen, und ein Büschel Seifenhaar fiel über die linke Augenbraue.

 ?? ??
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg