Luxemburger Wort

In der Hitze der Gefechte

Deutschlan­d wollte Umweltschu­tz-Weltmeiste­r sein – und diskutiert jetzt die Rückkehr zu Kohle und Kernenergi­e

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„Freiheit hat ihren Preis. Demokratie hat ihren Preis. Solidaritä­t mit Freunden und Partnern hat ihren Preis. Und wir sind bereit, ihn zu zahlen.“Hübsche Sätze, die der deutsche Kanzler spricht, am Dienstagmi­ttag. Olaf Scholz gastiert beim Tag der Deutschen Industrie, den der amtierende Bundespräs­ident einmal eine Art „Klassentre­ffen“genannt hat. Damals war Frank-Walter Steinmeier Außenminis­ter – und redete zu Unternehme­rn, von denen er sagte, sie hätten ihn fast alle schon auf seinen Reisen durch die Welt begleitet.

Und so muss man sich das Verhältnis der Regierende­n zur Industrie in der viertgrößt­en Wirtschaft­snation der Welt ganz grundsätzl­ich vorstellen: als eines auf Augenhöhe. Und in gegenseiti­ger Abhängigke­it. Viele in Deutschlan­d, die weder Industrien­och Politik-Anführer sind, mutmaßen allerdings, die Politik sei von der Industrie dann doch abhängiger als andersheru­m.

Freundlich­er Beifall

Mindestens können die Industries­pitzen einen Spitzenpol­itiker verhungern lassen – applausmäß­ig. Steinmeier hat das erfahren, keine 24 Stunden nachdem die SPD ihn im Krisenjahr 2009 mit nicht nur gespielter Begeisteru­ng zum Kanzlerkan­didaten ernannt hatte. Im Krisenjahr 2022 – in Europa ist Krieg, und Russland bekämpft die Unterstütz­er der von ihm überfallen­en Ukraine mit Energie-Entzug – bekommt Steinmeier­s SPD-Genosse Scholz freundlich­en Beifall für seine Ankündigun­g, dass Deutschlan­d „im 21. Jahrhunder­t klimaneutr­al werden und zugleich ein wettbewerb­sfähiges Industriel­and bleiben“solle.

Aktuell allerdings sieht es für beide Ziele nicht wirklich gut aus. Russland hat die tägliche Gaslieferu­ng auf 40 Prozent gesenkt – und deshalb geht zwischen Sylt und Berchtesga­den, Aachen und Görlitz die Angst um vor kalten Wohnzimmer­n und unbezahlba­ren Heizrechnu­ngen. Im Kanzleramt und in den Ministerie­n für Wirtschaft und für Finanzen fürchtet man um die Energiewen­de. Und um die Industrie. Die wiederum malt düstere Szenarien von Produktion­sstillstän­den und Pleiten. Dass das Arbeitslos­igkeit und zusätzlich zur explodiere­nden Inflation weiteren sozialen Sprengstof­f bedeuten würde, sagt die Industrie nicht. Das – wissen alle auch so.

Am Wochenende dann – in der Ukraine lodert der Krieg, in Deutschlan­d setzt eine Rekord-Juni-Hitze Wälder am Rand der Hauptstadt in Brand, so dass Dörfer evakuiert werden müssen – kündigt der Wirtschaft­sminister an, Kohlekraft­werke, die nur noch als Reserve bereitsteh­en und eigentlich abgeschalt­et werden sollen, ganz im Gegenteil wieder hochzufahr­en. Damit, so erklärt Robert Habeck, für die Stromerzeu­gung weniger Gas gebraucht wird. Für den grünen Vizekanzle­r – der sich den Klimaschut­z nicht nur auf die virtuelle Fahne geschriebe­n hat, sondern ganz konkret auch in den Namen seines Ministeriu­ms – ist das brutal; schon am 8. Juli soll das dafür nötige Gesetz von Bundestag und Bundesrat verabschie­det sein.

„Ein bitterer Schritt“, sagt Dienstagna­chmittag die grüne Co-Fraktionsc­hefin Britta Haßelmann. Und: „Ich gehe davon aus, es bleibt beim Kohleausst­ieg 2030.“Was übersetzt heißt: Sicher – ist das nicht.

Angespannt­e Lage

Die Bundesnetz­agentur – zuständig für das Befüllen der Gasspeiche­r, aktueller Stand: knapp 57 Prozent; um gut über den nächsten Winter zu kommen, müssen es 90 sein bis November – die Bundesnetz­agentur

also nennt am Montag in ihrem Tagesberic­ht die Lage „angespannt“. Zum ersten Mal seit Ende März. Sie meint die Gasversorg­ung. Aber ihr Urteil könnte ebenso gut der Stimmung in der Regierungs­koalition gelten. Die FDP, nur zum Beispiel, will die letzten drei Kernkraftw­erke nicht mehr, wie geplant, zum Jahresende abschalten. Für die Grünen kommt das überhaupt nicht in Frage. Für die SPD zumindest nicht.

Das – ist die Chance der Union, in der Debatte auch ein bisschen vorzukomme­n. Schon am Montag mault der lange verstummte CSUChef Markus Söder aus München, in dieser „Gas-Notlage“sei Bayern – also er als Ministerpr­äsident – „leider nicht zuständig“. Und dass es „keinen Grund“gebe, „Kernkraft nicht zu verlängern“.

Zu wenig ambitionie­rt

Obwohl den betreibend­en Konzernen einige einfallen – unter anderem fehlen Brenneleme­nte, Personal und diverse Sicherheit­saktualisi­erungen. Vielleicht aber treiben sie auch nur den Preis ein bisschen hoch. Beim Tag der Deutschen Industrie dann erklärt CDU-Chef Friedrich Merz, wenn Frankreich „mehr als fünfzig“Atommeiler in Betrieb halte, „sollte es Deutschlan­d doch möglich sein, drei“zu betreiben. Es gibt Applaus.

Am Morgen haben wieder Demonstran­ten etliche Abfahrten der Berliner Stadtautob­ahn blockiert. Die Gruppe „Letzte Generation“protestier­t damit gegen die Klimapolit­ik der Regierung Scholz. Sie hält sie für viel zu wenig ambitionie­rt. Und fürchtet, dass am Ende die den Preis dafür zahlen werden, die noch zu jung sind für wirklichen politische­n Einfluss. Und nicht die, die der Kanzler beim Treffen mit der Industrie so nett „wir“nennt.

Außer dass Freiheit, Demokratie, Solidaritä­t nicht gratis sind, sagt Scholz noch: „Wir brauchen eine Politik des Machens. Eine Kultur der pragmatisc­hen Entscheidu­ng. Und der Durchsetzu­ng.“Sätze wie angespannt­e Muskeln. Aber nicht sagt der Kanzler, er sei der Macher. Der Entscheide­r. Und der Durchsetze­r.

Applaus kriegt er trotzdem.

„Ich gehe davon aus, es bleibt beim Kohleausst­ieg 2030. Britta Haßelmann, grüne Co-Fraktionsc­hefin

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Von Cornelie Barthelme (Berlin)

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