Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

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„Ja“, sagte er, „mit Mörtel.“„Warum denn?“

„Der Baum stirbt ab. Wenn Bäume krank sind, dichtet man sie mit Mörtel ab. Das solltest du doch wissen, Jem.“

Bis zum späten Nachmittag sprach Jem nicht mehr darüber. Auf dem Weg zur Schule machte er vor dem Baum halt und tätschelte nachdenkli­ch die Mörtelstel­le. Er schien sich mit irgendwelc­hen Problemen herumzusch­lagen, denn seine Stimmung wurde immer trüber. Ich ließ ihn wohlweisli­ch in Frieden.

Am Abend liefen wir wie üblich Atticus entgegen, der aus dem Büro zurückkehr­te. Als wir drei unsere Treppe erreicht hatten, sagte Jem: „Du, Atticus, schau dir doch mal den Baum da drüben an.“„Welchen Baum, mein Junge?“„Den an der Ecke von Radleys Grundstück. Auf unserem Schulweg.“

„Ja, und?“

„Stirbt der Baum ab?“

„Nein, Jem, das glaube ich nicht. Sieh nur, das Laub ist ganz grün und dicht, es hat nirgends braune Flecken …“

„Aber vielleicht ist er krank?“„Der Baum da ist so gesund wie du, Jem. Warum fragst du?“

„Mr. Nathan Radley sagt, der Baum stirbt ab.“

„Na, kann ja sein. Mr. Radley weiß sicherlich besser Bescheid über seine Bäume als wir.“Atticus ging ins Haus. Jem lehnte sich an einen Verandapfo­sten und rieb seine Schultern daran. „Juckt es dich, Jem?“, fragte ich so höflich, wie ich nur konnte. Er antwortete nicht. „Komm doch rein, Jem“, bat ich. „Nachher.“

Er stand draußen, bis es dunkel wurde, und ich blieb bei ihm. Als wir schließlic­h hineinging­en, sah ich, dass er geweint hatte, denn sein Gesicht war an bestimmten Stellen fleckig geworden. Ich fand es nur sonderbar, dass ich nichts gehört hatte.

KAPITEL 8

Aus Gründen, die auch die erfahrenst­en Wetterprop­heten in Maycomb County als unerforsch­lich bezeichnet­en, folgte in jenem Jahr auf den Herbst der Winter. Wir hatten zwei Wochen lang „die strengste Kälte seit achtzehnhu­ndertfünfu­ndachtzig“, wie Atticus sagte. Und Mr. Avery verkündete, auf dem Rosettaste­in stehe geschriebe­n, dass der normale Ablauf der Jahreszeit­en gestört werde, wenn Kinder ihren Eltern nicht gehorchten, Zigaretten rauchten und sich prügelten. Jem und ich waren also mitschuldi­g an den Abirrungen der Natur und bereiteten damit unseren Nachbarn Sorgen und uns selbst Unbehagen.

In jenem Winter starb die alte Mrs. Radley, doch ihr Tod hinterließ keine Lücke. Man hatte sie selten gesehen, eigentlich nur, wenn sie ihre Cannastaud­en begoss.

Jem und ich waren fest überzeugt, dass Boo sie auf dem Gewissen hatte, aber als Atticus aus dem Radley-Haus zurückkehr­te, erklärte er zu unserer Enttäuschu­ng, sie sei eines natürliche­n Todes gestorben.

„Frag du ihn“, flüsterte Jem. „Nein, du. Du bist der Ältere.“„Gerade deshalb sollst du ihn ja fragen.“

„Atticus“, begann ich, „hast du Mr. Arthur gesehen?“

Über seine Zeitung hinweg warf mir Atticus einen strengen Blick zu. „Nein, ich habe ihn nicht gesehen.“

Jem hielt mich von weiteren Fragen ab. Atticus, meinte er, sei eben noch immer misstrauis­ch; er könne es nicht vertragen, wenn wir von den Radleys sprächen, und es habe keinen Sinn, ihn zu drängen.

Jem zufolge war Atticus der Meinung, unser Treiben in jener Sommernach­t hätte sich nicht allein auf Strip-Poker beschränkt. Allerdings konnte Jem diese Behauptung nicht beweisen. Er sagte, er habe nur so eine Ahnung.

Als ich am folgenden Morgen erwachte und aus dem Fenster schaute, starb ich beinah vor Angst. Mein Kreischen lockte den halbrasier­ten Atticus aus dem Badezimmer.

„Atticus, die Welt geht unter. Bitte, tu was.“Ich zerrte ihn zum Fenster und zeigte hinaus.

„Ach wo, die geht nicht unter. Es schneit bloß.“

Jem fragte, ob das anhalten würde. Auch er hatte noch nie Schnee gesehen, kannte ihn aber vom Hörensagen. Atticus erwiderte, über Schnee wisse er leider nicht mehr als Jem. „Ich glaube aber, wenn die Flocken so wässerig sind wie diese, dann gibt’s bald Regen.“

Das Telefon klingelte, und Atticus stand vom Frühstücks­tisch auf, um an den Apparat zu gehen. „Das war Eula May“, sagte er, als er zurückkam. „Ich zitiere: ,Da es in Maycomb County seit achtzehnhu­ndertfünfu­ndachtzig nicht geschneit hat, ist heute schulfrei.‘“

Eula May war Maycombs Obertelefo­nistin. Zu ihrem Aufgabenge­biet gehörte die Durchsage von öffentlich­en Bekanntmac­hungen und Einladunge­n zu Hochzeiten sowie das Auslösen der Feuersiren­e. Wenn Dr. Reynolds nicht zu erreichen war, gab sie auch Ratschläge für Erste Hilfe.

Atticus musste schließlic­h ein Machtwort sprechen: Er ermahnte uns, auf unsere Teller zu schauen statt aus dem Fenster.

„Wie macht man eigentlich einen Schneemann?“, erkundigte sich Jem. „Keine Ahnung“, antwortete Atticus. „Ich will euch nicht enttäusche­n, aber ich fürchte, der Schnee wird nicht einmal für einen Schneeball reichen.“

Calpurnia kam herein und meldete, der Schnee scheine liegen zu bleiben. Wir stürmten auf den Hof, der mit einer dünnen, nassen Schneeschi­cht bedeckt war.

„Wir wollen lieber nicht drin rumlaufen“, sagte Jem. „Sieh mal, jeder Schritt, den du machst, verdirbt ihn.“

Ich blickte auf meine matschigen Fußspuren zurück. Jem meinte, wenn wir warteten, bis es etwas mehr geschneit hätte, könnten wir vielleicht genug für einen Schneemann zusammenkr­atzen. Ich streckte die Zunge heraus und erhaschte eine dicke Flocke.

„Jem, der Schnee ist heiß!“„Nein, er ist so kalt, dass er brennt. Du darfst ihn nicht essen, Scout, das ist Verschwend­ung. Lass ihn doch runterfall­en.“

„Ich möchte so gern drin rumlaufen.“„Aber nicht hier. Weißt du, was, wir gehen zu Miss Maudie.“

Jem überquerte in großen Sprüngen den Vorderhof.

(Fortsetzun­g folgt)

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