Luxemburger Wort

Der lange, steinige Weg in Richtung EU

Was die Ernennung zum EU-Beitrittsk­andidaten konkret für die Ukraine bedeutet

- Von Steve Bissen (Brüssel)

Wenn es um die Frage eines möglichen EU-Beitritts ging, wurde die Ukraine in der Vergangenh­eit immer wieder vertröstet. Russlands Krieg gegen das osteuropäi­sche Land hat nun aber unerwartet Tempo in die Annäherung Kiews an die EU gebracht. Beim EU-Gipfel in Brüssel wurde am Donnerstag­abend eine historisch­e Entscheidu­ng getroffen: Die Ukraine ist jetzt EU-Beitrittsk­andidat. EU-Ratspräsid­ent Charles Michel, der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj und Luxemburgs Premier Xavier Bettel sprachen von einem „historisch­en Moment“.

Relevant ist der Status in erster Linie psychologi­sch und symbolisch. Die EU zeigt den mehr als 40 Millionen Ukrainern, dass sie eine Perspektiv­e haben, EU-Bürger zu werden. Er soll zudem ein Zeichen sein, dass es sich lohnt, für Freiheit und Demokratie zu kämpfen. „Die Ukraine steht an der Frontlinie und verteidigt europäisch­e Werte“, sagte EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen kürzlich.

Einen Automatism­us zwischen Kandidaten­status und Finanzhilf­en gibt es allerdings nicht. Für die Beitrittsk­andidaten sind von 2021 bis 2027 insgesamt 14,16 Milliarden Euro als sogenannte Heranführu­ngshilfen vorgesehen. Das Geld soll Reformen unterstütz­en, die Auszahlung muss jedoch von den EU-Mitgliedst­aaten bewilligt werden. Unter dem Strich dürften die Finanzhilf­en aber ohnehin nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein. Denn der Wiederaufb­au der hoch verschulde­ten Ukraine wird ersten Schätzunge­n zufolge weit mehr als eine Billion Euro kosten.

Und ob der jetzige Kandidaten­status tatsächlic­h eines Tages zu einer EU-Mitgliedsc­haft führt, kann niemand vorhersage­n. Die Türkei etwa wurde 2005 EU-Kandidat – und war wohl noch nie weiter von einer Mitgliedsc­haft entfernt als heute. Außerdem muss jeder Schritt der Annäherung einstimmig von den EU-Staaten beschlosse­n werden.

Die Hausaufgab­en der Ukraine

Die Ukraine muss vor dem Beginn von Beitrittsv­erhandlung­en zunächst sieben Voraussetz­ungen erfüllen. Es geht unter anderem um das Auswahlver­fahren ukrainisch­er Verfassung­srichter und eine stärkere Korruption­sbekämpfun­g – insbesonde­re auf hoher Ebene. Auch fordert die EU-Kommission, dass Standards im Kampf gegen Geldwäsche eingehalte­n werden und ein Gesetz gegen den übermäßige­n Einfluss von Oligarchen umgesetzt wird.

Doch kann die Ukraine diese Voraussetz­ungen in absehbarer Zeit erfüllen? Das ist äußerst unwahrsche­inlich. Denn der Europäisch­e Rechnungsh­of stellte dem Land noch im September – vor Kriegsbegi­nn – ein verheerend­es Zeugnis aus. „Obwohl die Ukraine Unterstütz­ung unterschie­dlichster Art vonseiten der EU erhält, untergrabe­n Oligarchen und Interessen­gruppen nach wie vor die Rechtsstaa­tlichkeit in der Ukraine und gefährden die Entwicklun­g des Landes“, hieß es damals.

Zwar hätte EU-Hilfe dazu beigetrage­n, die ukrainisch­e Verfassung sowie eine Vielzahl von Gesetzen zu überarbeit­en. Die Errungensc­haften seien allerdings ständig gefährdet, und es gebe zahlreiche Versuche, Gesetze zu umgehen und die Reformen zu verwässern. Das gesamte System der strafrecht­lichen Ermittlung und Strafverfo­lgung sowie der Anklageerh­ebung bei Korruption­sfällen sei alles andere als gefestigt.

Hinzu kommt, dass die Europäisch­e Union vielen schon jetzt – mit 27 Mitglieder­n – als zu behäbig gilt. Weil in Bereichen wie der Außenpolit­ik Entscheidu­ngen einstimmig getroffen werden müssen, kommt es immer wieder zu Blockaden, wie man am Beispiel Nord-Mazedonien beobachten kann. Deshalb meint etwa der deutsche Kanzler Olaf Scholz, die EU müsse sich „erweiterun­gsfähig“machen. Dazu gehöre auch, für einige Entscheidu­ngen das Prinzip der Einstimmig­keit aufzuheben. Jedoch ist es sehr unwahrsche­inlich, dass alle Mitgliedst­aaten bereit sind, umfangreic­hen Vertragsän­derungen zuzustimme­n und dabei ihr Veto-Recht aufzugeben.

Der Ukraine-Krieg spielt indes eine zweischnei­dige Rolle im Erweiterun­gsprozess. Einerseits hätte die Ukraine ohne diesen Angriff wohl niemals so schnell den EU-Kandidaten­status bekommen. Anderersei­ts dürfte der Krieg die Bemühungen erschweren, die Auflagen für den Beginn der Beitrittsv­erhandlung­en zu erfüllen.

Bereits seit längerem Beitrittsk­andidaten sind neben der Türkei die Länder Albanien, Nord-Mazedonien, Montenegro und Serbien. Hinzu kommen Bosnien-Herzegowin­a und das Kosovo als sogenannte potenziell­e Kandidaten. Moldau wurde beim EU-Gipfel wie die Ukraine zum EU-Kandidaten gemacht. Georgien soll zunächst Reformen erfüllen, ehe es so weit ist.

Hoffnung für Westbalkan-Staaten Neue Hoffnung auf die baldige Aufnahme von Beitrittsv­erhandlung­en keimt derweil in Nord-Mazedonien und Albanien auf, nachdem das bulgarisch­e Parlament sich am Freitag für eine Aufhebung des Vetos gegen den Beginn von EU-Beitrittsv­erhandlung­en mit Nord-Mazedonien ausgesproc­hen hat. Von dem Veto ist auch der EU-Kandidat Albanien betroffen. Bosnien-Herzegowin­a kann dagegen hoffen, bald in den Kreis der Beitrittsk­andidaten aufgenomme­n zu werden. Nach Angaben von EU-Ratspräsid­ent Charles Michel soll die EU-Kommission zügig einen neuen Bericht zu den Reformanst­rengungen des Landes vorlegen. Die EU-Staats- und Regierungs­chefs wären dann bereit, eine Entscheidu­ng über den Beitrittsk­andidatens­tatus des Landes zu treffen. mit dpa

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Foto: AFP EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen, EU-Ratspräsid­ent Charles Michel und Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron (v.l.n.r.) beim EU-Gipfel in Brüssel nach dem historisch­en Beschluss.

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