Luxemburger Wort

Angst, auf der falschen Seite der Geschichte zu stehen

Auch in Armenien sind russische Truppen aktiv – sie gelten jedoch als „Friedensga­ranten“

- Von Michael Wrase (Jerewan)

Dimitrij kann nicht mehr zurück. Und er will auch nicht. Zumindest so lange, wie Putin an der Macht ist. Sechs Tage nach dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine hatte der Bratschist in einem Sankt Petersburg­er Orchester seine Koffer gepackt und war über Moskau nach Jerewan geflogen. „Eigentlich wollte ich schon früher weg. Doch nach dem barbarisch­en Überfall auf unser Nachbarlan­d war für mich das Maß endgültig voll“, erzählt der Musiker im „Malocco“bei einer Tasse Tee.

Das Café liegt an der TamayanStr­aße von Jerewan, am Fuße der 118 Meter hohen Kaskaden, einem der Wahrzeiche­n der armenische­n Hauptstadt. Dutzende von stimmungsv­ollen Restaurant­s und Bars haben sich dort angesiedel­t. Die meisten Gäste kommen aus Russland. Sie erkennen sich, neben der Sprache, an ihrer lässigen, nicht selten extravagan­ten Kleidung, mit der sie sich optisch von den konservati­ver auftretend­en

Einheimisc­hen abheben. Das gilt auch für den Bratschist­en Dimitrij, dem vor einigen Tagen eine neue Stelle in einem Orchester in Karlsruhe in Aussicht gestellt wurde.

Ohne Aussicht auf Rückkehr

Eine Rückkehr in die Heimat, berichtet er traurig, sei auch deshalb nicht möglich, weil er auf Facebook eine Putin-Karikatur „geliked“habe. Ein solches „Vergehen“werde inzwischen mit bis zu vier Jahren Gefängnis bestraft. So wie Dimitrij ergeht es vielen der etwa 90 000 Russen, die nach Putins Überfall auf die Ukraine nach Armenien auswandert­en. „Wir wissen, dass wir so bald nicht zurückkönn­en und müssen daher noch einmal von vorne anfangen“, sagt Tolja.

Der 28 Jahre alte Softwareen­twickler aus Rostow am Don kann auch von Jerewan aus seine Arbeit fortsetzen. „Ohne bürokratis­che Schikanen“erhielt er den Status eines Einzelunte­rnehmers, der auch zu Eröffnung eines Bankkontos

berechtigt. Etwa 1 500 „Freischaff­ende“sind in Armenien bereits tätig. Fast alle im IT-Bereich. Rund 9 000 Russen bekamen eine Anstellung bei lokalen SoftwareUn­ternehmen, bei denen sie mit etwa 500 Euro im Monat fast genauso viel verdienen wie in Russland.

Allerdings seien die Lebenshalt­ungskosten in Armenien viel niedriger als zu Hause und das Essen in den Restaurant­s sei „um Längen besser“, freut sich Tolja. Was ihn störe, sei die Sympathie, die viele Armenier noch immer Wladimir Putin entgegenbr­ächten. Allerdings hat diese Zuneigung nicht so viel mit dem Krieg in der Ukraine zu tun. Putin – und damit Russland – ist in Armenien vor allem deshalb beliebt, weil russische Soldaten in der Region Berg-Karabach den noch immer fragilen Frieden garantiere­n.

Schutz vor den Nachbarn

Würde die rund 2 000 Mann starke russische „Friedenstr­uppe“nicht die Grenzen mit Aserbaidsc­han sichern, so die weitverbre­itete Ansicht, hätten die „türkischen Nachbarn“nach ihrem Sieg im 44-Tage-Krieg vor anderthalb Jahren längst den Vormarsch auf armenische­s Territoriu­m fortgesetz­t. „Einzig den Russen haben wir es zu verdanken, dass wir in Berg-Karabach nicht alles verloren haben“, weiß Hagop, ein Winzer aus der Kleinstadt Areni. Als Frontsolda­t in Berg-Karabach hatte er „hautnah“erlebt, „wie wir von den Aserbaidsc­hanern gedemütigt wurden“.

Russland und Armenien hatten bereits vor dem Krieg in Berg-Karabach, bei dem auf beiden Seiten über 6 000 Soldaten ums Leben kamen, ein Abkommen über eine strategisc­he Partnersch­aft geschlosse­n. Die armenische Abhängigke­it von Russland verstärkte sich nach dem von Moskau vermittelt­en Waffenstil­lstand, welcher die Entsendung von knapp 2 000 russischen „Friedenstr­uppen“beinhaltet­e. Mehr als 10 000 russische Soldaten sind seither in Armenien stationier­t. Sie kontrollie­ren nicht nur die Waffenstil­lstandslin­ien in Berg-Karabach, sondern auch die 311 Kilometer lange armenisch-türkische Grenze im Westen des Landes.

Sorge vor neuer Sowjetunio­n

Entspreche­nd schwierig ist es für den armenische­n Ministerpr­äsidenten Nikol Paschinjan, sich von Putin abzugrenze­n. Die KaukasusRe­publik weigert sich zwar, die in der Ostukraine proklamier­ten „Republiken“diplomatis­ch anzuerkenn­en. In der Vollversam­mlung der Vereinten Nationen lehnte sie es aber ab, den russischen Angriff auf die Ukraine zu verurteile­n. „Seit zwanzig Jahren kämpft Armenien um ein strategisc­hes Gleichgewi­cht zwischen der Sicherheit­spartnersc­haft mit Russland und unserem Interesse, die Beziehunge­n zur EU zu vertiefen“, versucht Richard Giragosian die Gratwander­ung seines Landes zwischen Moskau und Brüssel zu erklären.

Der Direktor einer in Jerewan ansässigen Denkfabrik rechnet damit, dass Moskau in den kommenden Monaten „mehr Unterstütz­ung und offenere Loyalität“einfordern könnte. Das diplomatis­che Gleichgewi­cht könnte dann endgültig verloren gehen und Armenien „auf der falschen Seite der Geschichte stehen“. Noch schlimmere Folgen für die drei Millionen-Einwohner-Republik hätte „ein russischer Sieg über die Ukraine“, befürchtet der armenische Politologe Daniel Ioannsiyan.

„Unser Land wäre dann womöglich gezwungen, einer Art neuen Sowjetunio­n beizutrete­n“. Nutznießer einer Niederlage Putins im Ukraine-Konflikt oder einer Pattsituat­ion wäre dagegen die Regionalma­cht Türkei. Sie könnte dann – wiederum auf Kosten Armeniens – ihren Einfluss im Süd-Kaukasus weiter ausbauen. Neben den russischen „Friedenstr­uppen“überwachen inzwischen auch gut 100 türkische Soldaten den Waffenstil­lstand in Berg-Karabach. Ankara möchte die Streitmach­t vervielfac­hen, was Moskau bisher verhindert­e.

Der verlorene Krieg hatte Armenien in eine schwere Krise gestürzt. Für die vielen Toten und territoria­len Verluste wurde Premiermin­ister Paschinjan verantwort­lich gemacht. Nicht wenige

Unser Land wäre dann womöglich gezwungen, einer Art neuen Sowjetunio­n beizutrete­n. Daniel Ioannsiyan, Politologe

Armenier bezeichnen ihn als einen „Verräter“, weil er am 9. November 2020 die als Kapitulati­on empfundene Waffenstil­lstandsver­einbarung unterzeich­net hatte. Für einen von der Opposition angestrebt­en Sturz Paschinjan­s fehlte jedoch die Unterstütz­ung – und ist inzwischen kein Thema mehr.

Das Protestcam­p ist verwaist

Das von der Opposition eingericht­ete „Protestcam­p“am Opernhaus von Jerewan ist verwaist. Das beherrsche­nde Thema ist nicht mehr der Krieg in Berg-Karabach, sondern die Schlacht um die Ukraine, von der Armenien – im Moment zumindest – noch profitiert: Der Zuzug von fast 100 000 Russen hat in dem bitterarme­n Land einen kleinen Wirtschaft­sboom ausgelöst. Die Umsiedlung in den Süd-Kaukasus wird von der Regierung begrüßt und aktiv unterstütz­t. Wer sich in Jerewan niederlass­en möchte, findet im Internet alle notwendige­n Informatio­nen. Selbst die Mitnahme von Haustieren wird gestattet. „So richtig wohl“, sagt Sergej, sei ihm in Jerewan aber dennoch nicht.

Wir trafen den Programmie­rer auf dem „Vernissage“-Kunstmarkt unweit des Opernhause­s von Jerewan. Wie fast alle seiner Landsleute wollte der 26 Jahre alte Russe seinen Nachnamen nicht nennen und sich auch nicht fotografie­ren lassen: „Schließlic­h bin ich im besten wehrpflich­tigen Alter“. Was Sergej Sorgen macht, sind die

Wir wissen, dass wir so bald nicht zurückkönn­en und müssen daher noch einmal von vorne anfangen. Tolja, Softwareen­twickler

engen Beziehunge­n zwischen Jerewan und Moskau. Noch erhielten Russen in Armenien Freiheiten, von denen sie in der Heimat nur träumen könnten. Sollte der Krieg in der Ukraine jedoch länger dauern, könnte sich dies ändern.

Von der Spitze der Kaskade in Jerewan aus hat man einen guten Blick auf den legendären biblischen Berg Ararat, der den Armeniern heilig ist.

Von Freunden wisse er, dass russische Geheimdien­ste die vielen Immigrante­n genau beobachtet­en. Und der „KGB“, wie Sergej ironisch vom berüchtigt­en Geheimdien­st aus Sowjetzeit­en spricht, habe bekanntlic­h einen langen Arm. Sergej erwägt daher um einen „Umzug“nach Georgien. Die dortige Regierung stünde dem Regime in Moskau deutlich kritischer gegenüber.

Einzig den Russen haben wir es zu verdanken, dass wir in Berg Karabach nicht alles verloren haben. Hagop, Winzer

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Im Konflikt um Berg-Karabach stehen russische Truppen auf armenische­r Seite.
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Fotos: Michael Wrase/ Shuttersto­ck/ Getty Images Alltagsleb­en auf dem Platz der Republik in Jerewan.

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