Ein politisches Erdbeben
In den USA ist das Recht auf Abtreibung aus dem Jahr 1973 nach einem historischen Urteil nun Geschichte
Washington. Der Oberste Gerichtshof der USA hat nach fast einem halben Jahrhundert das liberale Abtreibungsrecht in den Vereinigten Staaten gekippt. Der mehrheitlich konservativ besetzte Supreme Court in Washington machte mit seiner Entscheidung am Freitag den Weg für strengere Abtreibungsgesetze frei – bis hin zu kompletten Verboten in einzelnen Bundesstaaten. Damit ist das bisherige Recht auf Abtreibung aus dem Jahr 1973 in den USA Geschichte. Die Entscheidung gilt als politisches Erdbeben. Dagegen werden massive Proteste erwartet.
„Die Verfassung gewährt kein Recht auf Abtreibung“, heißt es in der Urteilsbegründung. Die Entscheidung ist keine Überraschung: Anfang Mai hatte das Magazin „Politico“einen Entwurf dazu veröffentlicht. Daraus ging bereits hervor, dass das Gericht so entscheiden will. Daraufhin gab es einen Aufschrei von Frauenrechtsorganisationen, Kliniken und Liberalen. Das Urteil ist nun so drastisch wie erwartet. In etwa der Hälfte der Bundesstaaten dürfte es zu weitgehenden Einschränkungen kommen.
Es gibt in den USA kein landesweites Gesetz, das Schwangerschaftsabbrüche erlaubt oder verbietet. Abtreibungen sind aber mindestens bis zur Lebensfähigkeit des Fötus erlaubt – heute etwa bis zur 24. Woche. Dies stellte bisher ein Urteil des Obersten USGerichts von 1973 sicher, das als „Roe vs. Wade“bekannt ist. Ein weiteres Urteil von 1992, „Planned Parenthood vs. Casey“, bestärkte die Rechtsprechung und passte sie etwas an. Der Supreme Court hat diese Entscheidungen nun gekippt.
Kritik an den Vorgängern
Die heutige konservative Mehrheit im obersten US-Gericht hielt sich mit Schelte an den Vorgängern nicht zurück. „Roe war vom Tag seiner Entscheidung an ungeheuer falsch und auf Kollisionskurs mit der Verfassung. Casey hat seine Fehler fortgesetzt“, heißt es in der Begründung. Die „Befugnis zur Regelung“des Abtreibungsrechts werde nun an das Volk und seine gewählten Vertreter zurückgegeben.
In den USA ist das Abtreibungsrecht immer wieder Thema heftiger Auseinandersetzungen. Gegner
Abtreibungsgegner feierten vor dem Supreme Court.
versuchen seit Jahrzehnten, die liberalen Regeln zu kippen. Unter dem vorigen Präsidenten Donald Trump rückte der Supreme Court deutlich nach rechts. Der Republikaner ernannte während seiner Amtszeit die Richter Neil Gorsuch, Brett Kavanaugh und Amy Coney Barrett. Sie alle stimmten dafür, das Recht auf Abtreibung zu kippen – gemeinsam mit den konservativen Richtern Clarence Thomas und Samuel Alito. Der oberste Richter John Roberts machte deutlich, dass er das Recht auf Abtreibung
nicht in diesem nun drastischen Ausmaß beschränken wollte.
Die Richterinnen Sonia Sotomayor und Elena Kagan sowie Richter Stephen Breyer stimmten gegen die Entscheidung. Sie gelten als liberal. „Nach dem heutigen Tag werden junge Frauen mit weniger Rechten aufwachsen, als ihre Mütter und Großmütter hatten“hieß es in ihrer abweichenden Meinung. Die Mehrheit habe entschieden ohne zu bedenken, was es bedeute, Frauen das Recht auf Abtreibung zu nehmen.
Doch warum beschäftigte sich das Gericht überhaupt mit dem Thema? Hintergrund ist ein Abtreibungsgesetz aus dem Bundesstaat Mississippi, das fast alle Abtreibungen nach der 15. Schwangerschaftswoche verbietet – ein Gesetz, das nach der bisherigen Rechtsprechung eigentlich verfassungswidrig war. Der konservativ regierte Bundesstaat hatte das Oberste Gericht angerufen, den Fall zu überprüfen.
Die Entscheidung sieht nun vor, es den Bundesstaaten zu überlassen, wie sie ihr Abtreibungsrecht regeln. Dies gilt als besonders drastisch. Einige Staaten haben bereits
Gesetze vorbereitet, die sofort in Kraft treten können, wenn die bisherige Rechtsprechung kippt – sogenannte „Trigger Laws“. Es sind vor allem die erzkonservativen Staaten im Süden und mittleren Westen, die Abtreibung ganz oder fast komplett verbieten wollen.
Strapazen für betroffene Frauen
Liberale Staaten wie New York oder Kalifornien haben hingegen Gesetze, die das Recht auf Abtreibung ausdrücklich schützen. In diesen Staaten dürfte sich vorerst nichts ändern. Für Schwangere bedeutet die Entscheidung, Hunderte oder gar Tausende Kilometer reisen zu müssen, um eine Abtreibungsklinik zu erreichen. Viele können sich das nicht leisten. Befürchtet wird, dass wieder vermehrt Frauen versuchen, selbst eine Abtreibung vorzunehmen.
Die Demokraten von US-Präsident Joe Biden hatten Anfang Mai versucht, das Recht auf Abtreibung per Gesetz zu verankern – scheiterten damit aber im Senat. Die Abstimmung war in erster Linie symbolischer Natur. Mit ihrer knappen Mehrheit können die Demokraten ein solches Gesetz nicht ohne weiteres durchbringen. dpa