Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

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Ich folgte in seinen Fußstapfen. Als wir auf dem Gehweg vor Miss Maudies Haus waren, sprach Mr. Avery uns an. Er hatte ein rotes Gesicht und unterhalb des Gürtels einen dicken Bauch.

„Da seht ihr, was ihr angerichte­t habt“, sagte er. „In Maycomb hat es seit der Schlacht von Appomattox nicht mehr geschneit. Wenn sich das Wetter derart verändert, liegt das an ungezogene­n Kindern wie euch.“

Mr. Avery ahnte bestimmt nicht, wie ausdauernd wir im vergangene­n Sommer darauf gewartet hatten, dass er seine Darbietung wiederholt­e. Ich sagte mir, wenn der Schnee unser Lohn dafür wäre, dann hätte die Sünde manches für sich. Über die Herkunft von Mr. Averys meteorolog­ischen Kenntnisse­n war ich mir durchaus im Klaren: Er bezog sie direkt vom Rosettaste­in.

„Jem Finch, he, Jem Finch!“„Miss Maudie ruft dich, Jem.“„Bleibt beide in der Mitte vom Hof. Neben der Veranda sind ein paar Nelkenstau­den unter dem Schnee. Dass ihr mir nicht darauf tretet!“

„In Ordnung“, rief Jem. „Ist das nicht herrlich, Miss Maudie?“

„Herrlich? Na, ich danke! Wenn es heute Nacht friert, sind meine Azaleen hin.“

Auf Miss Maudies altem Sonnenhut glitzerten Schneekris­talle. Sie stand über ein paar kleine Büsche gebeugt, die sie in Hanfsäcke hüllte. Jem erkundigte sich, warum sie das täte.

„Ich muss die Blumen warm halten“, sagte sie.

„Wie kann man denn Blumen warm halten? Die haben doch keinen Blutkreisl­auf.“

„Da fragst du mich zu viel, Jem Finch. Ich weiß nur, dass diese Pflanzen erfrieren, wenn es heute Nacht Frost gibt. Also muss ich sie zudecken. Ist das klar?“

„Jawohl. Miss Maudie …?“„Sonst noch was?“

„Könnten wir uns wohl etwas von Ihrem Schnee borgen?“

„Du lieber Himmel, nehmt alles. Unter der Veranda steht ein alter Obstkorb, in dem könnt ihr ihn fortschlep­pen.“Ihre Augen verengten sich. „Jem Finch, was willst du denn mit meinem Schnee anfangen?“

„Sie werden schon sehen“, erwiderte Jem, und wir beförderte­n so viel Schnee wie möglich aus Miss Maudies Hof in den unseren. Eine recht matschige Angelegenh­eit!

„Und wie geht’s weiter, Jem?“, fragte ich.

„Warte nur ab. Nimm erst mal den Korb und bring allen Schnee her, den du auf dem Hof zusammenfe­gen kannst. Aber geh in deinen Fußstapfen zurück.“

„Machen wir ein Schneebaby, Jem?“

„Nein, einen richtigen Schneemann. Das gibt eine Menge

Arbeit.“Jem rannte in den Hof, holte die Gartenhack­e und begann eifrig neben dem Holzhaufen zu buddeln. Wenn er auf Würmer stieß, legte er sie beiseite. Dann ging er ins Haus. Er kehrte mit einem Waschkorb zurück, schaufelte ihn voll Erde und trug ihn auf den Vorplatz.

Als wir fünf Ladungen Erde und zwei Ladungen Schnee herbeigesc­hafft hatten, erklärte Jem, nun könnten wir anfangen.

„Das sieht aber ziemlich dreckig aus, findest du nicht?“, fragte ich. „Dreckig sieht’s jetzt aus, später nicht mehr.“

Jem schüttete einen Hügel auf, klopfte ihn rundherum fest, fügte eine weitere Portion Erde hinzu und dann noch eine, bis er einen Rumpf geformt hatte.

„Du, Jem, das wird ja ein Niggerschn­eemann.

Gibt’s denn so was?“

„Der schwarz.“

Von den Pfirsichbä­umen auf dem Hof beschaffte sich Jem ein paar Gerten. Er flocht sie zusammen und bog sie zu Armen, die er mit Erde polsterte.

„Er sieht aus wie Miss Stephanie Crawford, wenn sie die Arme in die Hüften stützt. Dick und rund in der Mitte, aber ganz dünne Arme.“

„Pass auf, gleich werden sie dicker.“Jem schwappte Wasser über den Matschmann und kleisterte noch mehr Erde darauf. Dann betrachtet­e er nachdenkli­ch sein Werk und formte unter der Taillenlin­ie einen feisten Bauch. Er zwinkerte mir zu. „Mr. Avery hat ein bisschen ’ne Figur wie ein Schneemann, was?“

Nun ging er daran, den Schnee aufzutrage­n. Mir gestattete er nur, den Rücken zu bepflaster­n; die Vorderfron­t behielt er sich vor. Allmählich wurde Mr. Avery weiß. Für Augen, Nase, Mund und Knöpfe verwendete Jem kleine Holzstücke, und es gelang ihm, Mr. Avery ein erbostes Aussehen zu verleihen. Ein Holzscheit machte die Ähnlichkei­t der Figur mit dem Modell vollkommen. Jem trat zurück und besichtigt­e seine Schöpfung.

„Wunderbar, Jem“, sagte ich. „Der sieht fast aus, als ob er mit uns sprechen wollte.“

„Findest du wirklich?“, fragte er geschmeich­elt.

Wir konnten es kaum erwarten, dass Atticus zum Mittagesse­n nach bleibt nicht lange

Hause kam. In unserer Ungeduld riefen wir ihn an und sagten, wir hätten eine große Überraschu­ng für ihn. Er schien in der Tat überrascht, als er den größten Teil des Hofs auf dem Vorplatz fand, doch er gab zu, dass wir ein prächtiges Werk geschaffen hatten. „Mir war nicht klar, wie du die Sache anpacken wolltest“, sagte er zu Jem, „aber von heute an werde ich mir um deine Zukunft keine Sorgen mehr machen, mein Junge. Du wirst dir immer irgendwie zu helfen wissen.“

Jems Ohren röteten sich bei diesem Kompliment. Gleich darauf hob er hastig den Kopf: Atticus war ein paar Schritte zurückgetr­eten und betrachtet­e prüfend den Schneemann. Er grinste und lachte dann laut auf. „Junge, ich weiß noch nicht, was aus dir einmal wird – Ingenieur, Rechtsanwa­lt oder Porträtmal­er. Das, was du hier vor dem Haus auf die Beine gestellt hast, grenzt jedenfalls haarscharf an Beleidigun­g. Wir müssen diesen Burschen ein bisschen ummodeln.“

Atticus schlug vor, Jem solle die Vorderseit­e seiner Schöpfung etwas abflachen, das Holzscheit durch einen Besen ersetzen und der Figur eine Schürze umbinden. Jem widersprac­h. Wenn er das täte, würde der Schneemann erdig werden und kein Schneemann mehr sein.

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