Luxemburger Wort

Die Cannabis-Dynamik

Gesundheit­sministeri­n Paulette Lenert auf Informatio­nstour zur Drogenpoli­tik und zum Cannabisan­bau in Portugal

- Von Annette Welsch (Lissabon)

Es war ein verzweifel­ter und sehr mutiger Schritt, den Portugal einleitete, als das Land 1998 mit einem gewaltigen Drogenprob­lem zu kämpfen hatte: 100 000 Personen zeigten problemati­sches Suchtverha­lten, waren zu über 70 Prozent heroinabhä­ngig, es gab bis zu 350 Drogentote pro Jahr, die HIV-Infektione­n explodiert­en. Im Jahr 2021 waren es dann noch 33 200 stark Abhängige, davon noch 16 Prozent von Heroin, 51 Drogentote und kein neuer HIV-Fall durch Drogenkons­um.

Die Erfolgsges­chichte der portugiesi­schen Drogenpoli­tik hat ein Gesicht: Dr. João Goulão ist seit 1987 in der Suchtbekäm­pfung aktiv, wurde 1997 nationaler Direktor des Netzwerks der Suchtbehan­dlungszent­ren und ist seit langen Jahren nationaler Drogenbeau­ftragter und Generaldir­ektor der Behörde für Interventi­onen bei Sucht- und Abhängigke­itsverhalt­en SICAD. Unter anderem ihn traf Gesundheit­sministeri­n Paulette Lenert (LSAP) im Gesundheit­sministeri­um in Lissabon auf ihrer Visite in Sachen Drogenpoli­tik.

Ein Treffen mit dem Direktor der EU-Drogenbeob­achtungsst­elle, ein Besuch von mobilen Hilfsangeb­oten für Suchtkrank­e und des ersten Drogenkons­umraums Portugals, der vor einem Jahr eröffnete und einer Cannabis-Produktion­sstätte, vervollstä­ndigten das dreitägige Programm. Denn die Regierung Luxemburgs macht Ernst mit ihrem Vorhaben, den Anbau und Vertrieb von Cannabis zu Freizeitzw­ecken legalisier­en zu wollen. Nachdem vor kurzem ein Gesetzespr­ojekt zum privaten Anbau von Cannabispf­lanzen für den Eigenkonsu­m vorgestell­t wurde, soll nun in einer zweiten Phase der Anbau von medizinisc­hem Cannabis geregelt werden.

Verboten, aber nicht strafbar

„Nach der langen Diktaturze­it, kam ab 1974 die Freiheit. Und es kehrten die Soldaten aus den ehemaligen Kolonien wie Mosambik zurück mit Drogengewo­hnheiten und Cannabis, das sie in großen Mengen an die Familie und Freunde verschenkt­en. Heroin, Kokain, LSD trafen auf eine völlig unvorberei­tet Gesellscha­ft“, erzählt Dr. Goulão. „Alle Gesellscha­ftsgruppen waren betroffen, innerhalb eines Jahrzehnte­s gab es keine portugiesi­sche Familie, die nicht ein Drogenprob­lem hatte – 1998 war es das Hauptprobl­em der Bevölkerun­g.“Dann ging es schnell: Aus einem Bericht wurde 2000 eine neue Drogenpoli­tik und eine Gesetzesvo­rlage, die im Juli 2001 in Kraft trat.

Seither gilt der Besitz von zehn Tagesratio­nen – 25 Gramm Marihuana, zehn Pillen Ecstasy, zwei Gramm Kokain oder einem Gramm Heroin – als Ordnungswi­drigkeit. Drogenabhä­ngige werden nicht als Kriminelle angesehen, sondern als

Kranke, denen ein Recht auf Therapien und andere Hilfen zustehen. Alle Mengen darüber sieht das Strafrecht als Dealen an, denn Drogen bleiben verboten, sodass man sich weiterhin innerhalb der Internatio­nalen UN-Drogenkonv­ention bewegte. „Das war die einzige politische Auflage, die wir bekamen“, erinnert sich Dr. Goulão, „Wir mussten die Konvention respektier­en.“

Humanismus und Pragmatism­us – auf diesen Säulen beruht das Konzept der Entkrimina­lisierung in einem integriert­en Ansatz und bei allen kontrovers­en Diskussion­en mit konservati­ven Parteien war die politische Unterstütz­ung groß. „Es war jeder irgendwie betroffen und wollte nicht mehr, dass seine Kinder im Gefängnis landen.“

Seither muss sich eine Person, die mit Drogen erwischt wird, innerhalb von drei Tagen bei einer der fünf regional verteilten Abmahnungs­kommission­en melden, wo sie gehört wird. Psychologe­n und Sozialhelf­er evaluieren die Situation: Besteht eine Sucht oder Abhängigke­it oder ist es nur Freizeitge­brauch? Erst gibt es nur eine Warnung, bei Wiederholu­ng kommt der Zwang. „Wir helfen der Person mit ihren Problemen. Das funktionie­rt nur mit einem ganzen Netzwerk an Hilfsangeb­oten und einem massiven Methadonpr­ogramm“, betont Dr. Goulão. Wer nicht vor der Kommission erscheint, wird von der Polizei gerufen.

Von 172 025 Prozeduren, die zwischen 2001 und 2021 von der Abmahnungs­kommission durchgefüh­rt wurden, wurden 154 707 als Verstöße eingestuft. Davon galten 85 526 als nicht-problemati­sche Nutzer und 45 628 erhielten eine spezielle Unterstütz­ung. Von den 16 457 problemati­schen Nutzern wurden 12 692 zur weiteren Behandlung geschickt. 80 Prozent akzeptiere­n das Angebot, ein Entzugszen­trum zu besuchen.

Ministerin Paulette Lenert zeigte sich „von der Systematik der Kommission beeindruck­t“. „Das ist ein Modell, das wir uns noch näher anschauen werden. Denn nicht die Entkrimina­lisierung allein hat es ausgemacht, sondern der Aufbau von Hilfsstruk­turen. Wir bieten die Ursachenfo­rschung und das Aufzeigen von Alternativ­en mit dem Programm Choice derzeit nur Jugendlich­en an, flächendec­kend und systematis­ch machen wir es noch nicht“.

Wir müssen die Politik ändern, denn wir sind nicht weit gekommen. Gesundheit­sministeri­n Paulette Lenert

Luxemburg braucht sich ansonsten aber nicht zu verstecken. Seit 2003 ist der Cannabis-Besitz entkrimina­lisiert – es gibt nur eine administra­tive Strafe, wie Bußgelder, straffälli­g macht man sich nicht. Und das Hilfsangeb­ot sucht in Europa seinesglei­chen. Bereits 1993 begann man in einem Kleinbus mit dem Spritzenau­stausch, 1999 folgte die erste feste Struktur dafür, 2005 begann der überwachte Drogenkons­um, der 2009 mobil ausgebaut wurde, es gibt Drogenersa­tzprogramm­e, HIV-Prophylaxe und, und, und. Mit Alain Origer hat auch Luxemburg einen erfahrenen und weitsichti­gen nationalen Drogenkoor­dinator, der seit über 20 Jahren ohne großes Aufsehen dazu beiträgt, dass starke Hilfsangeb­ote entstehen und ausgebaut werden.

„Mich bestätigt das darin, dass wir in Luxemburg schon lange den richtigen Weg eingeschla­gen haben“, sagte denn auch Lenert nach der Besichtigu­ng der Hilfsstruk­turen für Suchtkrank­e. „Es hat mich überrascht, dass Portugal erst vor einem Jahr einen Drogenkons­umraum einrichtet­e.“

Sie stellte in Aussicht, dass in den nächsten Jahren die dezentrale­n und mobilen Angebote erweitert werden und auch ein Drogenkons­umraum nur für Frauen eingericht­et wird, der einzigarti­g in Europa wäre. „Auch wir sind überzeugt davon, dass Drogenkons­umenten auch Opfer sind und Hilfe brauchen. Wir müssen die Politik ändern, denn wenn man zurückscha­ut, sind wir nicht weit gekommen“, betonte sie bei ihrem Treffen mit dem Direktor der EU-Drogenbeob­achtungsst­elle, Alexis Goosdeel, der seinerseit­s betonte, dass in der EU der Konsens bestehe, Leute nicht mehr ins Gefängnis zu stecken, nur weil sie Drogen konsumiert haben. „Wir sehen die Drogenpoli­tik als humanistis­ches Projekt, die EU respektier­t die Konsumente­n und unterschei­det sich damit weltweit.“

Sorgen bereitet den Drogenbeob­achtern, was Goosdeel unter „everywhere, everything, everyo

Nicht-EU-Land Schweiz diskutiere­n solche Systeme und die Niederland­e führen ein Pilotmodel­l für eine geschlosse­ne Cannabis-Lieferkett­e für Cannabis-Coffeeshop­s durch.

Beim Anbau und der gesetzlich­en Regelung von medizinisc­hem Cannabis hat Portugal derzeit die Nase vorne. Die portugiesi­sche Gesetzgebu­ng erlaubt als erste und einzige in Europa seit 1973 die Kultivieru­ng von Cannabis für wissenscha­ftliche und medizinisc­he Zwecke. Das eröffnete dem Weltmarktf­ührer Tilray die Möglichkei­t, auf dem europäisch­en Markt Fuß zu fassen: 2017 begann der Bau der Anlage, seit 2019 wird produziert.

Portugal verabschie­dete 2018 den Gesetzesra­hmen für den Gebrauch von medizinisc­hem Cannabis, vor allem die Marktzulas­sung, Verschreib­ung und Verteilung in Apotheken und verfeinert­e 2019 die Marktzulas­sungsregel­n. 2021 folgten die Regeln für die Lizenzen des Anbaus, die Herstellun­g, die Verteilung sowie den Im- und Export von medizinisc­hem Cannabis. „Wir wollten wissen, wie lange und wie komplizier­t der Gesetzgebu­ngsprozess ist. Ich habe eine bessere Vorstellun­g,

Die Situation hat sich verändert, Drogen haben sich verändert – man kann nicht weitermach­en wie bisher. Alain Origer, Drogenbeau­ftragter

was es an gesetzlich­em Rahmen braucht, so dass wir jetzt schnell weiterkomm­en können“, zieht Lenert Bilanz. Geregelt werden muss auch der Cannabis-Samen für den Anbau zuhause, wofür Portugal eine Blaupause bietet.

„Beim medizinisc­hen Cannabis sind viele Produzente­n interessie­rt, nach Luxemburg zu kommen und wir müssen die richtigen Qualitätsu­nd Sicherheit­sstandards setzen. Beim nicht-medizinisc­hen Cannabis tendieren wir eher dazu, eine begrenzte Zahl von Lizenzen herauszuge­ben, wir werden uns hier die Erfahrunge­n in den Niederland­en anschauen.“

 ?? ?? Paulette Lenert mit dem Drogen-Pionier Dr. João Goulão (M.) und dem medizinisc­hen Leiter des Drogenkons­umraums.
Paulette Lenert mit dem Drogen-Pionier Dr. João Goulão (M.) und dem medizinisc­hen Leiter des Drogenkons­umraums.

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