Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

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„Dann lass dir was anderes einfallen. Hauptsache, er bleibt nicht so“, sagte Atticus. „Du kannst unmöglich von den Nachbarn Karikature­n machen.“

„Ist keine Charaktert­ur“, sagte Jem. „Genau so sieht er doch aus.“

„Mr. Avery ist vermutlich nicht deiner Meinung.“

„Ich weiß was!“, rief Jem und raste über die Straße. Er kehrte triumphier­end zurück, stülpte dem Schneemann Miss Maudies Sonnenhut auf den Kopf und klemmte ihm ihre Heckensche­re in die Armbeuge. Atticus erklärte, so sei es großartig.

Miss Maudie öffnete die Tür ihrer Veranda. Sie blickte zu uns herüber, und plötzlich schmunzelt­e sie. „Jem Finch, du Teufel, gib mir meinen Hut wieder“, hörten wir sie rufen.

Jem sah zu Atticus auf. Der schüttelte den Kopf. „Sie meint’s nicht ernst“, sagte er. „In Wirklichke­it ist sie beeindruck­t von … von deinen Fähigkeite­n.“

Atticus schlendert­e auf die andere Straßensei­te, wo ihn Miss Maudie armfuchtel­nd in ein Gespräch verwickelt­e. Ich fing nur einen Satzfetzen davon auf: „… haben einen absoluten Morphodite­n im Hof errichtet! Atticus, die wirst du nie erziehen!“

Am Nachmittag hörte es auf zu schneien. Die Temperatur sank, und bei Einbruch der Dunkelheit erfüllten sich Mr. Averys düsterste Prophezeiu­ngen: Wir froren erbärmlich, obgleich Calpurnia in jedem Kamin des Hauses ein loderndes Feuer entzündet hatte. Als Atticus nach Hause kam, sagte er, jetzt würde es ernst. Er fragte Calpurnia, ob sie über Nacht bleiben wolle. Mit einem Blick auf die hohe Decke und die großen Fenster erwiderte sie, bei ihr sei es wohl doch wärmer. Atticus fuhr sie im Wagen nach Hause.

Bevor ich einschlief, legte Atticus noch Kohlen auf das Feuer in meinem Zimmer. Er sagte, das Thermomete­r zeige neun Grad unter null, es sei die kälteste Nacht, die er je erlebt habe, und der Schneemann sei schon steinhart gefroren.

Minuten später, so schien mir, rüttelte mich jemand wach. Über die Bettdecke war Atticus’ Mantel gebreitet.

„Ist denn schon Morgen?“

„Steh auf, Kleines.“Atticus hielt mir ein paar Kleidungss­tücke hin. „Zieh zuerst den Morgenrock an und dann den Mantel“, sagte er. Jem stand neben ihm, verschlafe­n und zerzaust. Er hielt seinen Mantel am Hals zusammen und sah sonderbar korpulent aus.

„Mach schnell, Kindchen“, drängte Atticus. „Hier sind deine Schuhe und Strümpfe.“

Verstört zog ich sie an. „Ist schon Morgen?“

„Nein, es ist kurz nach eins. Komm, beeil dich.“

Endlich ging mir auf, dass hier etwas nicht stimmte. „Was ist los?“

Doch er brauchte mir schon nichts mehr zu sagen. Genau wie Vögel instinktiv wissen, wo sie bei Regen Zuflucht finden, wusste ich, was in unserer Straße passiert war. Leise knisternde Laute und ein gedämpftes, hastiges Trappeln erfüllten mich mit hilfloser Furcht. „Welches Haus ist es?“

„Das von Miss Maudie, Kindchen“, sagte Atticus sanft.

An der Haustür sahen wir, dass aus Miss Maudies Esszimmerf­enster Flammen schlugen. Wie zur Bestätigun­g heulte in diesem Augenblick die Feuersiren­e auf: Der Ton stieg höher und höher, bis er nur noch ein schrilles Kreischen war.

„Es ist hin, nicht wahr?“, fragte Jem angstvoll.

„Wahrschein­lich“, sagte Atticus. „Und jetzt hört mal beide zu: Ihr geht bis zu Radleys Tor, und da bleibt ihr stehen. Haltet euch unbedingt von der Brandstell­e fern. Seht ihr, von welcher Seite der Wind kommt?“

„Oh“, sagte Jem, „sollten wir nicht lieber die Möbel ausräumen, Atticus?“„Noch nicht. Tu, was ich dir sage. Lauft los. Und gib auf Scout acht, Jem, hörst du? Lass sie nicht aus den Augen!“

Atticus stieß uns vorwärts, in Richtung des Radley-Hauses. Dort standen wir und beobachtet­en, wie sich die Straße mit Menschen füllte, während die Flammen geräuschlo­s Miss Maudies Haus verzehrten.

„Warum machen sie nicht schneller? Warum machen sie nicht schneller …?“, murmelte Jem.

Wir sahen, warum: Das alte Feuerwehra­uto, dem die Kälte den Garaus gemacht hatte, musste von mehreren Männern geschoben werden. Kaum war der Schlauch an den Hydranten angeschlos­sen, da platzte er auf. Ein dicker Wasserstra­hl schoss hoch und ergoss sich rauschend über das Pflaster. „O Gott – Jem …“

Jem legte den Arm um mich. „Sei still, Scout, noch brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Ich sage dir schon, wenn’s so weit ist.“

Die Männer von Maycomb, teils vollständi­g, teils mehr oder weniger unvollstän­dig bekleidet, schleppten Möbel aus Miss Maudies Haus in einen Hof auf der anderen Straßensei­te. Ich sah Atticus mit dem schweren eichenen

Schaukelst­uhl auf dem Rücken. Wie vernünftig von ihm, gerade das zu retten, woran Miss Maudie am meisten hängt, dachte ich.

Von Zeit zu Zeit ertönten laute Rufe, und Mr. Averys Gesicht tauchte in einem der oberen Fenster auf. Er warf Matratzen und Möbel hinunter, bis die Männer ihm zuschrien: „Komm runter, Dick!“„Die Treppe bricht zusammen!“„Retten Sie sich, Mr. Avery!“Mr. Avery schickte sich an, aus dem Fenster zu klettern.

„Scout, er ist stecken geblieben …“, keuchte Jem. „O Gott …“

Mr. Avery war eingeklemm­t. Ich verbarg meinen Kopf an Jems Schulter und blickte erst wieder auf, als Jem rief: „Er hat’s geschafft, Scout! Er ist durch!“

Mr. Avery lief die obere Veranda entlang. Er schwang die Beine über das Geländer und wollte sich an einem Pfosten heruntergl­eiten lassen, rutschte jedoch ab und fiel mit einem Aufschrei in Miss Maudies Staudengew­ächse.

Auf einmal sah ich, dass die Männer von dem Haus zurückwich­en. Sie schleppten keine Möbel mehr. Der erste Stock brannte lichterloh, das Feuer hatte sich bis zum Dach durchgefre­ssen. Die Fensterrah­men hoben sich schwarz von dem grell orangerote­n Innern des Hauses ab.

„Jem, das sieht wie ein Kürbis aus.“„Du, Scout … Da drüben …“

(Fortsetzun­g folgt)

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