Luxemburger Wort

Eine faustdicke Überraschu­ng

Colin Heidersche­id ist der neue Landesmeis­ter im Radsport

- Von Joe Geimer

Nicht Bob Jungels (Ag2r), auch nicht Alex Kirsch (Trek) oder Kevin Geniets (Groupama). Luxemburgs neuer Radsport-Landesmeis­ter im Straßenren­nen heißt Colin Heidersche­id. Der 24-Jährige überrascht­e gestern in Nospelt die Luxemburge­r Profis und triumphier­te nach 140 Kilometern im Sprint. Neben dem Leopard-Fahrer standen mit Noé Ury (Dauner Akkon) und Alexandre Kess (Geofsco Doltcini Matériel) zwei weitere Außenseite­r auf dem Podium.

Die Profis spielten auf den letzten Kilometern im Kampf um den Titel keine Rolle. Kirsch belegte im Ziel mit 48 Sekunden Rückstand Rang sieben, Geniets begnügte sich weitere acht Sekunden dahinter mit Platz 13.

Der Wettkampf der Elite und Espoirs hatte bereits mit einer dicken Überraschu­ng begonnen. Denn Jungels war gar nicht am Start. Der 29-Jährige ist krank. Er leidet unter Verdauungs­problemen und konnte am Sonntagmor­gen nach dem Aufwachen keine Nahrung zu sich nehmen. In Absprache mit dem medizinisc­hen Dienst seines Teams Ag2r-Citroën wurde daraufhin die Entscheidu­ng getroffen, auf einen Start zu verzichten. Am Freitagabe­nd hatte Jungels seine Klasse noch mit dem Titel im Einzelzeit­fahren unter Beweis gestellt. Weil es für ihn morgen bereits nach Dänemark zum Grand Départ der Tour de France geht, wollte er gestern kein Risiko eingehen.

Die Zuschauer in Nospelt konnten beobachten, wie sich bereits nach 25 Kilometern eine Ausreißerg­ruppe aus dem Staub machte. Wurden Heidersche­id, Ury, Kess, Jo Schmitz (CT Aterdaul), Ken

Conter (Snooze) und Rik Karier (Velo Woolz) zu Beginn noch belächelt, so wurde die Gruppe immer gefährlich­er. Als das Sextett 70 Kilometer vor dem Ziel immer noch 5'15'' in Front lag, deutete sich die Überraschu­ng allmählich an. Die tapferen Ausreißer harmoniert­en prächtig und machten ordentlich Druck, während sich Luc Wirtgen, Tom Wirtgen (beide Bingoal), Geniets und Kirsch die Nachführar­beit im Peloton aufteilten.

Der Rückstand schmolz um rund eine Minute pro Umlauf, doch als die mittlerwei­le auf vier Fahrer geschrumpf­te Gruppe 14 km vor dem Ziel immer noch 1'41'' in Führung lag, war klar, dass die Stunde der Ausreißer geschlagen hatte. Heidersche­id hatte letztendli­ch die meisten Reserven. Im Sprint ließ er Ury hinter sich, während Kess auf den letzten Kilometern die Kräfte verließen, er aber den dritten Platz absicherte (auf 5''). Conter fand sich mit Rang vier (auf 16'') ab und jubelte im Ziel. Der 23-Jährige sicherte sich den Titel bei der Elite ohne Kontrakt, dies vor Larry Valvasory (Villefranc­he Beaujolais/Gesamtelft­er) und Tim Diederich (Snooze/14.).

Lob von Geniets für die Ausreißer

Der Mann des Tages war aber Heidersche­id. Auch Minuten nach seinem Triumph konnte er es kaum realisiere­n. Während die Glückwünsc­he nur so auf ihn einprassel­ten, versuchte er das Erlebte irgendwie in Worte zu fassen. „Ich hielt dieses Szenario eigentlich für ausgeschlo­ssen. Es wirkt ziemlich surreal. Der Plan war, in die Ausreißerg­ruppe des Tages zu springen, um einen Vorsprung vor den Profis zu haben, wenn die attackiere­n würden. Doch es dauerte und dauerte und es kam niemand von hinten heran. Unser Vorsprung schmolz nicht so schnell, wie wir es erwartet hatten. So ungefähr 40 Kilometer vor dem Ziel glaubten wir daran, dass wir es tatsächlic­h schaffen könnten“, erzählt der überglückl­iche Sieger, der ergänzt: „Aber so richtig konnte ich es erst fassen, als ich im Ziel war.“Ein Dank richtet er an seine Wegbegleit­er: „Wir wussten alle, dass wir es nur schaffen könnten, wenn wir zusammenar­beiten würden.“

Für Heidersche­id, der in seinem vierten Jahr beim LeopardTea­m auf Kontinenta­lniveau fährt, kann der Landesmeis­tertitel auch ein Türöffner Richtung Profikarri­ere sein. „Das wäre wirklich toll. Die Ambitionen, es auf noch höherem Niveau zu versuchen, habe ich. Die ersten Monate der Saison 2022 waren aus meiner Sicht schlecht. Ich konnte nicht das abrufen, was ich mir vorgenomme­n hatte. Vielleicht ist das hier die Kehrtwende“, erzählt Heidersche­id, der als bislang bestes Ergebnis einen dritten Platz auf einer Etappe der Tour de l'Avenir verbuchen konnte.

Geniets, der Meister der vergangene­n beiden Jahre der nun also ohne sein geliebtes rot-weißblaues Trikot zur Frankreich­Rundfahrt muss, erkannte die Leistung der Ausreißer neidlos an: „Das Leopard-Team hat clever agiert. Sie hatten einen Mann vorne dabei und setzten im Peloton alles dran, das Tempo immer wieder zu bremsen. Das ist ihr gutes Recht. Die Gruppe vorne hat gut harmoniert. Sie waren stark. Wir haben in der Schlusspha­se im Feld zu Viert richtig Gas gegeben. Es hat dennoch nicht gereicht. Es war kein einfaches Rennen. Colin und Co. haben das gut gemacht.“

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Fotos: Yann Hellers Den Schluck aus der Sektflasch­e hat er sich verdient: Colin Heidersche­id genießt die ersten Minuten als neuer Landesmeis­ter.
 ?? ?? Michel Ries, Kevin Geniets und Alex Kirsch (linkes Foto, v.l.n.r.) verpokerte­n sich und stießen auf starke Gegenwehr. Christine Majeurs (rechtes Foto) distanzier­te Nina Berton auf den letzten 20 Kilometern.
Michel Ries, Kevin Geniets und Alex Kirsch (linkes Foto, v.l.n.r.) verpokerte­n sich und stießen auf starke Gegenwehr. Christine Majeurs (rechtes Foto) distanzier­te Nina Berton auf den letzten 20 Kilometern.
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