Ungleichgewichte
Wie der Gipfel in Elmau ein bisschen sehr deutsch ist – für Olaf Scholz aber vielleicht nicht deutsch genug
Christian Neureuther immerhin ist begeistert. Kaum ist der einstige Skirennläufer mit Britta Ernst, der Gattin von Olaf Scholz, Brigitte Macron, Carrie Johnson und Amélie Derbaudrenghien, Ehefrau von Charles Michel, einmal um den Ferchensee nordicgewalkt, eineinhalb Kilometer Alpenidyll – sprudelt er über. Wunderbare Runde, sehr viel Spaß, fitte Frauen – „die Brigitte, also Frau Macron, wollte dann sogar nicht mit dem Shuttle fahren, sondern zu Fuß zurückgehen und das hat sie auch gemacht“.
Tags darauf, am Montagvormittag, ist es für andere Fußgängerinnen – und Fußgänger auch – nicht ganz so einfach, wenigstens in die Nähe von Schloss Elmau zu gelangen, wo ja seit Sonntag die G7-Runde tagt, verstärkt durch EU-Kommissions-Chefin Ursula von der Leyen und eben Michel, den Ratspräsidenten. Für Montagvormittag haben die sieben einen weiteren Gast – digital: Wolodymyr Selenskyj, den Präsidenten der von Russland in einen Krieg gezwungenen Ukraine. Und es ist klar: Das Gespräch mit ihm wird die Welt interessieren.
Deutschland liefert sehr viele Waffen – das wird auch überall anerkannt. Olaf Scholz, Bundeskanzler
Allerdings darf sie nicht live dabei sein. Hinterher plaudern die sogenannten Kreise aus, was die Welt erfahren soll. Dass Selenskyj den Krieg vor dem nächsten Winterbeginn beenden wolle. Und dass er um weitere Waffen gebeten habe, vor allem um Luftabwehrsysteme.
Kanzleroffensive
„Mehrfachraketenwerfer“hat Scholz am Morgen gesagt, Und „Flakpanzer, ein hochmodernes System“. Seinen ersten Auftritt an diesem Montag hat der deutsche Kanzler und Gastgeber – im Frühstücksfernsehen. Fast eine Viertelstunde antwortet Scholz auf Fragen – das muss man eine Offensive nennen. Allerdings wiederholt er dabei auch seine üblichen Phrasen. „Deutschland“, sagt er, „liefert sehr viele Waffen – das wird auch überall anerkannt.“
Das „sehr viele“ist relativ – das mit der Anerkennung auch. Seine eigene Partei, die SPD, hadert damit zu beträchtlichen Teilen. Und im Rest der Bündnis-Welt – NATO, EU, G7 – wird Scholz nicht nur hinter vorgehaltenen Händen, aber da ganz besonders, als Zauderer geschmäht und Deutschland als schwächstes Glied in der Unterstützer-Kette für die Ukraine.
So ist der große öffentliche Lobpreis von Joe Biden für Scholz am Vorgipfelabend auch als Demonstration verstanden worden. Und als Aufforderung an, ja Verpflichtung von Scholz, nicht nur von viel zu reden. Sondern auch viel zu tun.
Genau besehen treffen sich da im Schloss ja jede Menge Geschwächte. Der US-Präsident steht unter massivem Druck, denn im Herbst finden die Midterms statt, die Wahlen zur Hälfte seiner Amtszeit – und es sieht nicht gut aus für Bidens Demokraten. Sein französischer Kollege Emmanuel Macron hat gerade die Mehrheit in der Nationalversammlung verloren wie vor knapp drei Jahren Kanadas Premier Justin Trudeau, Boris Johnson misstraut ein beträchtlicher Teil der eigenen Leute und Mario Draghis Koalitionspartner in Rom zerlegt sich. Auch Scholzens SPD ist in Umfragen ein knappes Jahr nach der Bundestagswahl auf Rang drei abgestürzt – hinter die Union und den eigenen Koalitionspartner, die Grünen. Mindestens Scholz und Biden haben Erfolg gerade bitter nötig.
Verhältnismäßig kleine Proteste
Das gilt, man muss es so sagen, auch für die Gegner des Gipfels und der ganzen Politik der G7. Ihre
Demonstrationen in München am Samstag und in Garmisch-Partenkirchen am Sonntag sind klein ausgefallen. Ob es an der Ballung der Krisen liegt – Klima, Krieg, dazu Energiepreisexplosion und Inflation – oder an der massiven Polizeipräsenz in Elmau und weit darum herum, ist nicht heraus.
Auch der Sternmarsch zum Schloss am Montag ist schmal – und bitter. Im Internationalen Medienzentrum finden es viele Journalistinnen und Journalisten „sehr deutsch“, dass die Polizei die Demonstranten am liebsten selbst zum Protest fahren will – nach vorheriger Anmeldung „mit Name, Anschrift, Geburtsdatum“, erzählt einer, der es geschafft hat bis zum äußersten Punkt. Genau genommen ist es vor allem sehr bayrisch. Was ein Unterschied ist – aber kein weltbekannter.
Weil die 50 handverlesenen Demonstranten den Transport in Polizeiautos verweigerten – fährt nun ein gemieteter Bus das halbe Hundert aus dem Örtchen Klais Richtung Schloss. In einem halben
Kilometer Entfernung dürfen sie dann – nach akribischer Durchsuchung „bis auf den Körper“, wie einer klagt – nicht auf der Straße stehen, aber auch nicht auf der angrenzenden Wiese. Und ihre Transparente nicht Richtung Schloss kehren – von wo sie ohnehin nicht zu entziffern sind.
Ignoranz für das Elend
Ein älterer Demonstrant kämpft mit den Tränen. „Im Süden“, sagt er, „sterben die Menschen. Und die sitzen im Schloss – und uns weist man hier den Straßengraben zu.“Aber nicht das mache ihn „abgrundtrief traurig“– sondern die Ignoranz der G7 für das Elend der klimageplagten Bevölkerung der Südhalbkugel. Gerade sind ein paar der dort Regierenden im Schloss zu Gast: Indien, Indonesien, Argentinien, Südafrika, dem Senegal. Im Frühstücksfernsehen hat Scholz gesagt, man wolle „Solidarität zeigen“. Mit ihren und anderen weniger entwickelten Staaten. Aber in Wirklichkeit bedeutet das – Geld. Auch wenn Scholz davon nicht reden will. 600 Milliarden Dollar will sich die G7 ihre Verbundenheit kosten lassen – bis 2027.
Joe Biden hat das gesagt, schon am Sonntag. Und um Solidarität geht es auch in der Erklärung zur Ukraine vom Montag. Ganz explizit wird ihr darin „das Bemühen“zugesichert, „ihren unmittelbaren Bedarf … an militärischem Gerät und Verteidigungsgütern zu decken“und sie „mit Material, Ausbildung, Logistik, Aufklärung und wirtschaftlicher Unterstützung zum Aufwuchs ihrer Streitkräfte zu versorgen“. Und zwar „so lange es nötig ist“.
Das – klingt dann doch sehr amerikanisch. Und sehr wenig deutsch à la Scholz.
Genau besehen treffen sich da im Schloss jede Menge Geschwächte.