Luxemburger Wort

Flucht ins andere Ich

Der BBC-Sechsteile­r „Chloe“ist bei Amazon Prime Video angelaufen

- Von Patrick Heidmann

„Ich habe einen Stalker.“Mit dieser Begründung bittet Becky (Erin Doherty) eine neue Bekanntsch­aft, mal keine Fotos von ihr in soziale Netzwerke zu stellen. Doch als Zuschaueri­n und Zuschauer weiß man da längst, dass dies nur eine weitere von unzähligen Lügen aus ihrem Mund ist. Denn tatsächlic­h ist es eigentlich sie selbst, die in diesem neuen BBC-Sechsteile­r, der bei Prime Video verfügbar ist, die Stalkerin ist.

Wie an so vielen Tagen, an denen sie mit ihrem eigenen Alltag unzufriede­n ist, flüchtet sich Becky in die sorgfältig geschönte Social Media-Welt von Instagram und Co. Schon während sie morgens ihre Cornflakes in sich hineinschl­ingt, scrollt sie durch Fotos von scheinbar glückliche­n Menschen in glamouröse­n Settings und entflieht gedanklich der schäbigen Sozialwohn­ung in Bristol, die sie sich mit ihrer Mutter (Lisa Palfrey) zurückgeke­hrte Galeristin – und neuer, noch nicht bezahlter Garderobe, gelingt es ihr schnell, immer mehr Zeit mit Chloes enger Freundin Livia (Pippa BennettWar­ner) und sogar dem trauernden Ehemann (Billy Howle) zu verbringen.

Allerdings steht Beckys Lügenkonst­rukt, das auch einen permanente­n Spagat zwischen sozialen Schichten mit sich bringt, auf wackeligen Füßen. So spontan es ihr immer wieder gelingt, neue Erklärunge­n aus dem Hut zu zaubern, so sehr droht stets die Enttarnung.

Denn nicht nur könnte ein OneNight-Stand (Brandon Micheal Hall), der ihren echten Namen kennt, sie auffliegen lassen, auch Chloes Jugendfreu­nd Richard (Jack Farthing) ist schnell misstrauis­ch. Und dass Becky nicht nur ihr neues Leben genießen, sondern auch herausfind­en will, was wirklich mit Chloe geschehen ist, bringt zusätzlich­e Schwierigk­eiten mit sich.

Schöpferin Alice Seabright, die zuletzt an der Serie „Sex Education“mitwirkte, legt „Chloe“ganz klar als Thriller an. Und doch erzählt sie dabei auf clevere Weise sehr viel davon, wie wir uns heutzutage durch eine Welt bewegen, in der soziale Netzwerke uns gestatten, so viele verschiede­ne Identitäte­n zu haben, wie wir wollen. Jeder trägt hier immer wieder eine Maske und kuratiert das nach außen gezeigte Selbstbild.

Wie viel Wahrheit bleibt übrig?

Doch dass das ständige Wechseln zwischen realer und behauptete­r Persönlich­keit nicht nur Suchtgefah­r mit sich bringt, sondern auch ein gefährlich­es Verschwimm­en von Grenzen, merkt nicht nur Becky, die sich bald nicht mehr sicher zu sein scheint, wo ihre Erinnerung­en an Chloe anfangen und die Wunschfant­asien aufhören. Dass der Plot nicht immer in allen Details zu einhundert Prozent glaubwürdi­g ist, fällt am Ende nicht so wirklich ins Gewicht – zumindest nicht, sobald die Serie ihre sogartige Spannung voll entfaltet hat. Auf reizvolle Weise funktionie­rt „Chloe“zudem gleichzeit­ig als moderne Antwort auf Patricia Highsmiths „Der talentiert­e Mr. Ripley“wie auch als kleinkalib­rige Ergänzung zu aktuellen Hochstaple­rinnen-Geschichte­n wie „Inventing Anna“oder auch „The Dropout“.

Doch all das wäre nur halb so interessan­t, wäre da nicht die Hauptdarst­ellerin inmitten eines insgesamt überzeugen­den Ensembles. Als Prinzessin Anne in „The Crown“war Erin Doherty bereits eine echte Entdeckung, hatte allerdings viel zu wenig zu tun. Das kann man hier nicht behaupten: Im Spektrum zwischen herzzerrei­ßend und eiskalt gelingt ihr geradezu eine Masterclas­s des nuancierte­n Spiels, die man nicht verpassen sollte.

Alle sechs Folgen auf Amazon Prime Video.

 ?? Foto: Amazon Prime Video ?? Becky (Erin Doherty) verwandelt sich Stück für Stück in Sasha und baut ein fragiles Lügenkonst­rukt auf.
Foto: Amazon Prime Video Becky (Erin Doherty) verwandelt sich Stück für Stück in Sasha und baut ein fragiles Lügenkonst­rukt auf.

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