Flucht ins andere Ich
Der BBC-Sechsteiler „Chloe“ist bei Amazon Prime Video angelaufen
„Ich habe einen Stalker.“Mit dieser Begründung bittet Becky (Erin Doherty) eine neue Bekanntschaft, mal keine Fotos von ihr in soziale Netzwerke zu stellen. Doch als Zuschauerin und Zuschauer weiß man da längst, dass dies nur eine weitere von unzähligen Lügen aus ihrem Mund ist. Denn tatsächlich ist es eigentlich sie selbst, die in diesem neuen BBC-Sechsteiler, der bei Prime Video verfügbar ist, die Stalkerin ist.
Wie an so vielen Tagen, an denen sie mit ihrem eigenen Alltag unzufrieden ist, flüchtet sich Becky in die sorgfältig geschönte Social Media-Welt von Instagram und Co. Schon während sie morgens ihre Cornflakes in sich hineinschlingt, scrollt sie durch Fotos von scheinbar glücklichen Menschen in glamourösen Settings und entflieht gedanklich der schäbigen Sozialwohnung in Bristol, die sie sich mit ihrer Mutter (Lisa Palfrey) zurückgekehrte Galeristin – und neuer, noch nicht bezahlter Garderobe, gelingt es ihr schnell, immer mehr Zeit mit Chloes enger Freundin Livia (Pippa BennettWarner) und sogar dem trauernden Ehemann (Billy Howle) zu verbringen.
Allerdings steht Beckys Lügenkonstrukt, das auch einen permanenten Spagat zwischen sozialen Schichten mit sich bringt, auf wackeligen Füßen. So spontan es ihr immer wieder gelingt, neue Erklärungen aus dem Hut zu zaubern, so sehr droht stets die Enttarnung.
Denn nicht nur könnte ein OneNight-Stand (Brandon Micheal Hall), der ihren echten Namen kennt, sie auffliegen lassen, auch Chloes Jugendfreund Richard (Jack Farthing) ist schnell misstrauisch. Und dass Becky nicht nur ihr neues Leben genießen, sondern auch herausfinden will, was wirklich mit Chloe geschehen ist, bringt zusätzliche Schwierigkeiten mit sich.
Schöpferin Alice Seabright, die zuletzt an der Serie „Sex Education“mitwirkte, legt „Chloe“ganz klar als Thriller an. Und doch erzählt sie dabei auf clevere Weise sehr viel davon, wie wir uns heutzutage durch eine Welt bewegen, in der soziale Netzwerke uns gestatten, so viele verschiedene Identitäten zu haben, wie wir wollen. Jeder trägt hier immer wieder eine Maske und kuratiert das nach außen gezeigte Selbstbild.
Wie viel Wahrheit bleibt übrig?
Doch dass das ständige Wechseln zwischen realer und behaupteter Persönlichkeit nicht nur Suchtgefahr mit sich bringt, sondern auch ein gefährliches Verschwimmen von Grenzen, merkt nicht nur Becky, die sich bald nicht mehr sicher zu sein scheint, wo ihre Erinnerungen an Chloe anfangen und die Wunschfantasien aufhören. Dass der Plot nicht immer in allen Details zu einhundert Prozent glaubwürdig ist, fällt am Ende nicht so wirklich ins Gewicht – zumindest nicht, sobald die Serie ihre sogartige Spannung voll entfaltet hat. Auf reizvolle Weise funktioniert „Chloe“zudem gleichzeitig als moderne Antwort auf Patricia Highsmiths „Der talentierte Mr. Ripley“wie auch als kleinkalibrige Ergänzung zu aktuellen Hochstaplerinnen-Geschichten wie „Inventing Anna“oder auch „The Dropout“.
Doch all das wäre nur halb so interessant, wäre da nicht die Hauptdarstellerin inmitten eines insgesamt überzeugenden Ensembles. Als Prinzessin Anne in „The Crown“war Erin Doherty bereits eine echte Entdeckung, hatte allerdings viel zu wenig zu tun. Das kann man hier nicht behaupten: Im Spektrum zwischen herzzerreißend und eiskalt gelingt ihr geradezu eine Masterclass des nuancierten Spiels, die man nicht verpassen sollte.
Alle sechs Folgen auf Amazon Prime Video.