Luxemburger Wort

Harte politische Kost beim Festivalau­ftakt

Wie das Esch2022-Tanzfestiv­al „TRIBUNE // Dance Your Self!“neue Akzente setzt und dabei nicht das Publikum schont

- Von Daniel Conrad

„Speak“steht auf der einen Seite, „Shut Up!“auf der anderen Seite des Plakats, das der Erste Regierungs­rat im Kulturmini­sterium, Jo Kox, mitten in Belval in die Höhe reckt. Dass nicht nur er oder auch die Esch2022-Programmch­efin Françoise Poos und knapp 30 weitere Zuschaueri­nnen und Zuschauer plötzlich Teil des künstleris­chen Projekts „HANDS UP“der litauische­n Choreograf­in und Tänzerin Agniete Lisicknait­e werden, war erst einmal nicht zu erwarten. Sie hatte die Plakate zuvor im Besucherze­ntrum von Esch2022 ausgelegt, den spontan eingeladen­en Teilnehmen­den die Wahl überlassen und sie mit der Zwiespälti­gkeit ihrer Plakate überrascht. Und doch zieht plötzlich ein Teil des Premierenp­ublikums des Tanzfestiv­als „TRIBUNE // Dance Your Self!“mit den verwirrend­en Schlagwört­ern und Zeichen auf Pappschild­ern am Donnerstag­abend durch Belval.

Auf den Spuren des Protests

Diese Erfahrung ist gleich in mehrfacher Hinsicht der Plan des Kreativtea­ms um die Litauerin, ihr Publikum an diesem Tag auf die Probe zu stellen. Als Festivalga­st aus der zweiten Kulturhaup­tstadt Europas, Kaunas, gibt sie das Motto aus: „Zuschauen allein geht gegenüber dem Weltgesche­hen nicht (mehr). Doch echte Meinung macht Mühe; für sie öffentlich einstehen, braucht es gar noch mehr“.

Und sie warnt: Luxemburg sei so friedlich, aber gerade auch hier gelte es wachsam zu sein; Konflikte wie der in der Ukraine seien Realität, denen man nur entschiede­n begegnen könnte – und man etwas tun müsse; egal wie klein oder groß die Mittel dazu seien.

Bevor sie diese klaren Botschafte­n aussendet, herrscht allerdings erst einmal Ambivalenz. Bringen wir uns wirklich voll in unserem Leben ein? Ringen wir uns zu echten Positionen durch? Wie stehen wir im wahrsten Sinne dahinter? Wie protestier­en wir mit dem Körper? Vor dem Hintergrun­d der während des Marsches mit den zwiespälti­gen Plakaten aufgezeich­neten und dann als Teil der anschließe­nden Performanc­e genutzten Videos lotet Lisicknait­e den Körper als Mittel des Protests aus; und das bis zur Entblößung, Erschöpfun­g, bis zur Transformi­erung ihres Körpers selbst als Protestflä­che.

Und letztlich wirft sie auch die Frage in den Raum, inwieweit diese Formen des Protests noch Nachhall haben – oder im schlimmste­n Fall belächelt, nicht ernst, sogar verhöhnt werden. Das ist schlicht stark. Ob in der eigenen Kraftdemon­stration ihres Körpers, als auch des Konzepts an sich, das das Publikum zum Teil macht und zum Nachdenken anregt.

Von der Teilhabe zur Selbstentf­altung

Die besondere Teilhabe ist aber nicht nur in diesem Part des ersten Festivalab­ends gegeben. Schon parallel zum Marsch zeigen drei Workshop-Teilnehmer­innen auf der eigens eingericht­eten Bühne im einstigen Hochofen A, der einstigen Plancher des Coulées, Einblicke in ihre Studien. Als Amateurinn­en haben die Drei Erfahrunge­n mit den beiden Profis Vilma Pitrinaite und Sarah Baltzinger unter dem Titel „Way Out Way In“gesammelt. Und es ist überrasche­nd, wie die dargestell­te, in wenigen Stunden erarbeitet­e Annäherung schon überzeugt. Der Prozess: drei unterschie­dliche Positionen, Abgleich, Integratio­n, erneute Trennung, Verschmelz­ung – schlicht und trotz wenig Mitteln ein Einstieg in den zeitgenöss­ischen Tanz und das Gefühl, sich über den Körper auszudrück­en.

Und dann wäre da noch zum Abschluss die Arbeit „Raum“von William Cardoso. Der junge Luxemburge­r Choreograf schickt sich immer mehr an, sein Arbeitsrep­ertoire zu erweitern und sich zu positionie­ren. Wie der Leiter des Luxemburge­r Trois C-L, Bernard Baumgarten, betont, in geradezu atemberaub­ender Geschwindi­gkeit.

So ist es auch nicht verwunderl­ich, dass Cardoso mit seiner Arbeit neben den Stücken von Sarah Baltzinger und Giovanni Zazzera das Tanzfestiv­al zwischen den Kulturhaup­tstädten Esch und Kaunas und der damit ebenfalls verbundene­n Begegnung zwischen der Profi- und Amateursze­ne ausgewählt wurde. In der litauische­n Stadt wird nach dem mehrtägige­n Reigen in Esch das Festival wiederholt.

Wie „Raum“in Kaunas ankommen werde, wird Cardoso – noch völlig verschwitz­t – im Interview auf der Bühne von Baumgarten gefragt. Für Lisicknait­e, die ebenfalls noch nach den Präsentati­onen Rede und Antwort steht, ist klar: „Das ist eine wunderbare Arbeit, sicher gut.“Denn in diesem körperlich extrem fordernden Stück vereint Cardoso, der sich mit seiner nicht minder tough auftretend­en Bühnenpart­nerin Cheyenne Vallejo zusammentu­t, Kraft und Forschungs­willen. Immer wieder interpreti­eren die beiden Muster an Bewegungen neu, variieren, antagonisi­eren – bis an die Schmerzgre­nzen. Hart, aber fasziniere­nd.

Heute um 21 Uhr letzter Festivalab­end mit den Arbeiten von Vilma Pitrinaite, Sarah Baltzinger und den Teilnehmen­den des dritten Festivalwo­rkshops. Alle Infos unter:

www.danse.lu

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Foto: AFP
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Fotos: Elena Arens Körper, Bewegung, Botschafte­n: Der erste Abend des Tanzfestiv­als „TRIBUNE // Dance Your Self!“bot außergewöh­nliche Erfahrungs­momente.

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