Harte politische Kost beim Festivalauftakt
Wie das Esch2022-Tanzfestival „TRIBUNE // Dance Your Self!“neue Akzente setzt und dabei nicht das Publikum schont
„Speak“steht auf der einen Seite, „Shut Up!“auf der anderen Seite des Plakats, das der Erste Regierungsrat im Kulturministerium, Jo Kox, mitten in Belval in die Höhe reckt. Dass nicht nur er oder auch die Esch2022-Programmchefin Françoise Poos und knapp 30 weitere Zuschauerinnen und Zuschauer plötzlich Teil des künstlerischen Projekts „HANDS UP“der litauischen Choreografin und Tänzerin Agniete Lisicknaite werden, war erst einmal nicht zu erwarten. Sie hatte die Plakate zuvor im Besucherzentrum von Esch2022 ausgelegt, den spontan eingeladenen Teilnehmenden die Wahl überlassen und sie mit der Zwiespältigkeit ihrer Plakate überrascht. Und doch zieht plötzlich ein Teil des Premierenpublikums des Tanzfestivals „TRIBUNE // Dance Your Self!“mit den verwirrenden Schlagwörtern und Zeichen auf Pappschildern am Donnerstagabend durch Belval.
Auf den Spuren des Protests
Diese Erfahrung ist gleich in mehrfacher Hinsicht der Plan des Kreativteams um die Litauerin, ihr Publikum an diesem Tag auf die Probe zu stellen. Als Festivalgast aus der zweiten Kulturhauptstadt Europas, Kaunas, gibt sie das Motto aus: „Zuschauen allein geht gegenüber dem Weltgeschehen nicht (mehr). Doch echte Meinung macht Mühe; für sie öffentlich einstehen, braucht es gar noch mehr“.
Und sie warnt: Luxemburg sei so friedlich, aber gerade auch hier gelte es wachsam zu sein; Konflikte wie der in der Ukraine seien Realität, denen man nur entschieden begegnen könnte – und man etwas tun müsse; egal wie klein oder groß die Mittel dazu seien.
Bevor sie diese klaren Botschaften aussendet, herrscht allerdings erst einmal Ambivalenz. Bringen wir uns wirklich voll in unserem Leben ein? Ringen wir uns zu echten Positionen durch? Wie stehen wir im wahrsten Sinne dahinter? Wie protestieren wir mit dem Körper? Vor dem Hintergrund der während des Marsches mit den zwiespältigen Plakaten aufgezeichneten und dann als Teil der anschließenden Performance genutzten Videos lotet Lisicknaite den Körper als Mittel des Protests aus; und das bis zur Entblößung, Erschöpfung, bis zur Transformierung ihres Körpers selbst als Protestfläche.
Und letztlich wirft sie auch die Frage in den Raum, inwieweit diese Formen des Protests noch Nachhall haben – oder im schlimmsten Fall belächelt, nicht ernst, sogar verhöhnt werden. Das ist schlicht stark. Ob in der eigenen Kraftdemonstration ihres Körpers, als auch des Konzepts an sich, das das Publikum zum Teil macht und zum Nachdenken anregt.
Von der Teilhabe zur Selbstentfaltung
Die besondere Teilhabe ist aber nicht nur in diesem Part des ersten Festivalabends gegeben. Schon parallel zum Marsch zeigen drei Workshop-Teilnehmerinnen auf der eigens eingerichteten Bühne im einstigen Hochofen A, der einstigen Plancher des Coulées, Einblicke in ihre Studien. Als Amateurinnen haben die Drei Erfahrungen mit den beiden Profis Vilma Pitrinaite und Sarah Baltzinger unter dem Titel „Way Out Way In“gesammelt. Und es ist überraschend, wie die dargestellte, in wenigen Stunden erarbeitete Annäherung schon überzeugt. Der Prozess: drei unterschiedliche Positionen, Abgleich, Integration, erneute Trennung, Verschmelzung – schlicht und trotz wenig Mitteln ein Einstieg in den zeitgenössischen Tanz und das Gefühl, sich über den Körper auszudrücken.
Und dann wäre da noch zum Abschluss die Arbeit „Raum“von William Cardoso. Der junge Luxemburger Choreograf schickt sich immer mehr an, sein Arbeitsrepertoire zu erweitern und sich zu positionieren. Wie der Leiter des Luxemburger Trois C-L, Bernard Baumgarten, betont, in geradezu atemberaubender Geschwindigkeit.
So ist es auch nicht verwunderlich, dass Cardoso mit seiner Arbeit neben den Stücken von Sarah Baltzinger und Giovanni Zazzera das Tanzfestival zwischen den Kulturhauptstädten Esch und Kaunas und der damit ebenfalls verbundenen Begegnung zwischen der Profi- und Amateurszene ausgewählt wurde. In der litauischen Stadt wird nach dem mehrtägigen Reigen in Esch das Festival wiederholt.
Wie „Raum“in Kaunas ankommen werde, wird Cardoso – noch völlig verschwitzt – im Interview auf der Bühne von Baumgarten gefragt. Für Lisicknaite, die ebenfalls noch nach den Präsentationen Rede und Antwort steht, ist klar: „Das ist eine wunderbare Arbeit, sicher gut.“Denn in diesem körperlich extrem fordernden Stück vereint Cardoso, der sich mit seiner nicht minder tough auftretenden Bühnenpartnerin Cheyenne Vallejo zusammentut, Kraft und Forschungswillen. Immer wieder interpretieren die beiden Muster an Bewegungen neu, variieren, antagonisieren – bis an die Schmerzgrenzen. Hart, aber faszinierend.
Heute um 21 Uhr letzter Festivalabend mit den Arbeiten von Vilma Pitrinaite, Sarah Baltzinger und den Teilnehmenden des dritten Festivalworkshops. Alle Infos unter:
www.danse.lu