Frankreichs strahlendes Sorgenkind
Der Klimawandel macht die Atomkraft zu einer unsicheren Energiequelle – dazu kommen Korrosion und Wartung
Es dauerte nur eine Viertelstunde, bis Emmanuel Macron in seinem Fernsehinterview zum Nationalfeiertag auf die Vorteile der Atomkraft zu sprechen kam. „Die Atomkraft ist eine dauerhafte Lösung“, sagte der Präsident am 14. Juli im Brustton der Überzeugung. Dass es mit dieser Energieform derzeit nicht gerade gut läuft, musste der 44-Jährige dann aber doch zugeben. Frankreich müsse derzeit Strom aus dem Ausland importieren, räumte er ein. Und warum? Weil das Land mit den meisten Atommeilern in Europa eben auch die meisten Probleme mit der Atomkraft hat.
Erst am Mittwoch wurde bekannt, dass die Produktion in einem Reaktor des südfranzösischen Atomkraftwerkes Tricastin ganz eingestellt werden könnte, weil die Anlage wegen der Hitze nicht mehr gekühlt werden kann. Das Wasser der Rhône, das eigentlich zum Kühlen verwendet wird, ist wegen der Hitzewelle zu sehr aufgeheizt. In der Anlage Saint-Alban, die ebenfalls mit Rhône-Wasser arbeitet, muss der Betrieb deshalb auch auf ein Minimum heruntergefahren werden, wie der Betreiber EDF mitteilte. Und in Golfech im Westen taugt das Wasser des Flusses Garonne wegen seiner hohen Temperaturen ebenfalls nicht mehr zum Kühlen.
In der Regel pumpen die Atomkraftwerke Wasser in ihr Kühlsystem und leiten es dann wieder in die Flüsse oder ins Meer zurück. Dafür gelten Vorschriften, die verhindern sollen, dass das Ökosystem der Flüsse beschädigt wird. Wenn die Temperatur-Höchstwerte erreicht sind, muss der Meiler seinen Betrieb einschränken, um nicht noch mehr warmes Wasser abzuleiten. Doch wegen der Hitzewelle wurden die Grenzwerte Mitte Juli für drei Wochen nach oben gesetzt – mit Folgen für Fauna und Flora. „Angesichts des Klimawandels ist das Bild einer ‚grünen’ und leistungsfähigen Atomkraft nur Augenwischerei“, warnt die Anti-Atomorganisation Sortir du nucléaire.
Stromimport aus Deutschland
Zu den Kühlproblemen kommt die Korrosion, die zwölf der 56 Reaktoren derzeit stilllegt. Da der französische Atompark durchschnittlich 35 Jahre alt ist, müssen die Anlagen außerdem aufwändig inspiziert und gewartet werden. Das führt dazu, dass derzeit 18 weitere Reaktoren ausfallen. Ergebnis: Weniger als die Hälfte aller Reaktoren sind derzeit überhaupt im Einsatz. Frankreich muss deshalb
Strom importieren – auch aus dem wegen seiner Kohlekraftwerke geschmähten Deutschland.
„Die Wette auf die Atomkraft birgt das Risiko einer Energieknappheit“, warnte die frühere Umweltministerin und GrünenEuropaabgeordnete Corinne Lepage in der Zeitung „Le Monde“. Frankreich habe es versäumt, die erneuerbaren Energien auszubauen, um so in Zeiten wie diesen eine Alternative zur Atomkraft parat zu haben. Der Anteil der Erneuerbaren am Strommix liegt derzeit nur bei rund 20 Prozent, während er in Deutschland 50 Prozent ausmacht. Beherrschend ist nach wie vor die Atomkraft, die gut 70 Prozent des Stroms erzeugt.
Von der versprochenen Energiewende, mit der der Atomstromanteil bis 2035 auf 50 Prozent heruntergefahren werden soll, ist Frankreich damit noch weit entfernt. Doch nun sollen die Genehmigungsverfahren verkürzt werden, um die Erneuerbaren auszubauen. „Wir müssen schneller vorankommen“, forderte Macron in seinem Fernsehinterview. Das gelte vor allem für die OffshoreWindkraft und die Sonnenenergie. Die Windräder auf dem Land hätten dagegen ein „Akzeptanz-Problem“, räumte er ein.
Die Windenergie ist in Frankreich hoch umstritten. Im Präsidentschaftswahlkampf forderten mehrere Kandidaten, darunter Marine Le Pen, einen Baustopp für Windräder. Die Rechtspopulistin kündigte an, im Fall ihrer Wahl alle „Éoliennes“wieder abzureißen. Ihre Niederlage gegen Emmanuel
Macron hinderte sie daran. Doch in der Bretagne, wo Frankreichs erster Offshore-Windpark mit 62 Windrädern entstehen soll, laufen Fischer und Umweltschützer Sturm gegen das Projekt.
Da die Erneuerbaren jahrelang vernachlässigt wurden und die Atomenergie schwächelt, muss Frankreich – ähnlich wie Deutschland – alte Kohlekraftwerke länger laufen lassen. Von zuletzt vier Anlagen ist noch eine in Betrieb und eine zweite in Lothringen soll wieder angeworfen werden. Damit wolle man versuchen, die Probleme beim Bau des Druckwasserreaktors EPR in Flamanvillle am Ärmelkanal zu überbrücken, sagte Macron.
Frankreichs größtes Industriefiasko Flamanville ist das Synonym für Frankreichs größtes Industriefiasko der vergangenen Jahre. Mit dem Bau der modernen Anlage am Ärmelkanal war 2007 begonnen worden. Doch aufgrund von Schwierigkeiten an den Schweißnähten sowie am Reaktordeckel wurde die Inbetriebnahme immer wieder verschoben. Statt 2012 soll der EPR nun 2023 fertig werden.
Die Kosten haben sich in dieser Zeit von 3,3 Milliarden auf 19,1 Milliarden Euro versechsfacht. Auch wenn der EPR damit keine Werbung für sich selbst macht, will Macron in den nächsten Jahren sechs weitere solcher Anlagen bauen und argumentiert dabei mit der Klimafreundlichkeit der Atomkraft. Dabei gehört Frankreich trotz seiner CO2-armen Atomenergie eher zu den Schlusslichtern in der EU, was die Klimaziele angeht.
Der Neubau weiterer EPR-Reaktoren soll mindestens 50 Milliarden Euro teuer werden. Dazu kommen 100 Milliarden Euro, die die Modernisierung des alternden Atomparks kosten soll. Aus der Atomindustrie, einst eine Vorzeigebranche Frankreichs, ist damit ein Fass ohne Boden geworden. Nun will der Staat, der bereits 84 Prozent der Anteile hält, die mit 65 Milliarden Euro verschuldete
Angesichts des Klimawandels ist das Bild einer ‚grünen’ und leistungsfähigen Atomkraft nur Augenwischerei. Anti-Atomorganisation Sortir du nucléaire
Die Atomkraft ist eine dauerhafte Lösung. Emmanuel Macron am 14. Juli 2022 im Fernsehinterview
EDF ganz übernehmen. Der Konzern soll so den Bau der neuen EPR, aber auch die Erneuerbaren vorantreiben.
Vorerst fordert Emmanuel Macron seine Landsleute allerdings zum Energiesparen auf. Ein entsprechendes Rundschreiben, das Behörden beispielsweise nachts zum Abschalten ihrer Beleuchtung auffordert, wurde bereits veröffentlicht. Und Macron will mit gutem Beispiel vorangehen. „Wir sparen hier mit der Gebäuderenovierung Energie ein“, sagte er zu seinen Bemühungen im Elysée-Palast. „Und in einigen Wochen werden Sie sehen, dass in diesem Park Löcher gegraben werden. Wir wollen nämlich mit Geothermie heizen.“