Vom Pilotprojekt zum Vorzeigebeispiel
In Eupen gestalten per Zufall ausgeloste Bürger im Rahmen des permanenten Bürgerdialogs Politik nach ihren Vorstellungen
Was tun, wenn das Vertrauen in eine Institution angekratzt ist und Demokratie in den Ohren der Bürger auf Politikverdrossenheit reimt? Das altbewährte Wundermittel nach dem Motto „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“hat sich der Luxemburger Premierminister Xavier Bettel (DP) zu Herzen genommen und im Oktober 2021 bei seiner Erklärung zur Lage der Nation die Einsetzung eines Klima-Bürgerrates angekündigt. Ein 100-köpfiges Gremium, bestehend aus Bürgerinnen und Bürgern, soll nun die Ambitionen der Luxemburger Regierung in Sachen Klimapolitik bewerten und mit Vorschlägen selbst als Gestalter der Zukunftsvision Luxemburgs zum Zug kommen.
Dass Bürger von der Politik über ihre Wählerstimme hinaus in den Entscheidungsprozess miteingebunden werden, scheint einen bisher nie gewesenen Aufwärtstrend zu erleben. Während das Vertrauen in die demokratisch gewählten Volksvertreter umgekehrt schwindet, hat sich die Politik zum Ziel gemacht, einen neuen Weg der gemeinsamen Gestaltung mit den Bürgern zu beschreiten. Der permanente Bürgerdialog der deutschsprachigen Gemeinschaft
Alois Hendges ist der erfahrene Mann im Bürgerrat: 2019 war er Mitglied der ersten Bürgerversammlung des permanenten Bürgerdialogs Ostbelgiens und sitzt heute noch im Bürgerrat.
Ostbelgiens ist ein Vorzeigebeispiel dafür.
Unter den 77 000 Bürgern Ostbelgiens werden 25 bis 50 Menschen ausgelost, um sich in der Bürgerversammlung mit einem gesellschaftlichen Thema zu befassen und darauffolgend Empfehlungen für das Parlament und die Regierung der deutschsprachigen Gemeinschaft verfassen.
„Damit ist die Hoffnung verbunden, dass das Vertrauen der Bürger in die öffentliche Beschlussfassung gefestigt wird und somit letztendlich auch die demokratischen Institutionen gestärkt werden“, lautet die offizielle Erklärung vonseiten des permanenten Sekretariats des Bürgerdialogs Ostbelgiens zur Genese des Projektes. Unterwegs in der von Luxemburg 130 Kilometer weit entfernten 20 000-Einwohner-Stadt Eupen in Ostbelgien hat sich das „Luxemburger Wort“mit zwei Teilnehmern des Projektes im Parlament der deutschsprachigen Gemeinschaft zum Gespräch getroffen.
„Das Vertrauen der Bürger in die
Demokratie ist angekratzt“
Von Bernd Scherer geht eine staatsmännische Aura aus – der 74Jährige ist aber nicht Berufspolitiker, sondern ein einfacher Bürger. Gerade stehend, die Arme hinter dem Rücken verschränkt und freundlich winkend begrüßt der amtierende Vorsitzende des Bürgerrates in Eupen das „Luxemburger Wort“vor den Türen des Parlaments der deutschsprachigen Gemeinschaft. Alois Hendges, sein Bürgerratskollege, ist zu dem Zeitpunkt noch nicht anwesend. Der 64-jährige pensionierte IT-Projektmanager hat die Zeit übersehen und spielt zuhause mit seinem Enkel mit Bausteinen – ein normaler Bürger halt.
Einen einladenden Eindruck vermittelt auch die Fassade des architektonisch schlicht gestalteten Gebäudes des Parlaments, das um 1920 errichtet wurde und einst ein Kaufmannserholungsheim war. Der zwischen 2011 und 2013 bei den Renovierungsarbeiten des alten Sanatoriums eingerichtete Neubau, der als Sockel des Gebäudes fungiert, beherbergt nun den Plenarsaal des heutigen Parlaments, das 2013 in das Gebäude einzog. Bei den Umbauarbeiten achtete man, laut Angaben einer Broschüre zur Geschichte des heutigen Parlamentsgebäudes, darauf, „einen Balanceakt zu unternehmen, das Gebäude durch den eingreifenden Umbau nicht zu entstellen, sondern in seiner Integrität dennoch zu wahren“.
Ein repräsentativer Querschnitt der Bevölkerung
Ebenso müssen die Beteiligten des Bürgerdialogs in Eupen einen solchen Balanceakt leisten, um der Demokratie ihre Glaubwürdigkeit wiederzugeben, wie es Bernd Scherer formuliert: „Auch wenn das Vertrauen der Bürger in die Demokratie angekratzt ist, dürfen nicht 24 Politikhasser im Bürgerrat sitzen. Wir sind da, um zwischen der Politik und den Bürgern Brücken zu bauen.“Man verstehe sich als Sprachrohr der Bevölkerung, so Scherer. Es sei die Aufgabe des Bürgerdialogs, ein Vertrauensverhältnis zwischen der Politik und „den Menschen da draußen“zu schaffen. „Wir haben das Glück, dass die Menschen proaktiv auf der Straße auf uns zugehen. So nah kann ein Politiker gar nicht an die Menschen herantreten“, so der aktuelle Vorsitzende des Bürgerrates weiter.
Wir spüren, dass wir die Politik mit unseren Vorschlägen dazu motivieren, mehr auf die Bevölkerung zu hören. Alois Hendges, Teilnehmer des Bürgerrates
Auch wenn das Vertrauen der Bürger in die Demokratie angekratzt ist, dürfen nicht 24 Politikhasser im Bürgerrat sitzen. Bernd Scherer, amtierender Vorsitzender des Bürgerrates
Um der in der Bevölkerung spürbaren Demokratiemüdigkeit entgegenzuwirken, organisierte das Parlament der deutschsprachigen Region im Herbst 2017 den ersten Bürgerdialog zum Thema Kinderbetreuung. 20 Bürger wurden ausgelost, um über das vorgelegte Thema zu debattieren.
Nach den positiven Erfahrungen des ersten Bürgerdialogs tritt das Parlament im Sommer 2018 in Kontakt mit der erfahrenen Gruppierung G1000 und der„Stiftung für zukünftige Generationen“, um ein Modell der permanenten Bürgerbeteiligung auszuarbeiten, woraufhin 2019 das Dekret zur Einführung des Bürgerdialogs verabschiedet wird. 2020 kommt die erste Bürgerversammlung zusammen.
Abgeordnete und Minister müssen Ablehnung begründen
Der permanente Bürgerdialog in seiner heutigen Form beinhaltet drei Gremien: der Bürgerrat, die Bürgerversammlung und das permanente Sekretariat. Teilnehmer des Bürgerdialogs werden per Zufall unter der Bevölkerung Ostbelgiens ausgelost. Um die 1 000 Bürger, die über 16 Jahre alt sind und ihren Wohnsitz in der deutschsprachigen Gemeinschaft haben müssen, bekommen per Zufall einen Brief vom permanenten Sekretariat des Bürgerdialogs zugeschickt. Von diesen 1 000 wird ein repräsentativer Querschnitt der ostbelgischen Bevölkerung berücksichtigt und 25 bis 50 Bürger zurückbehalten – Alter, Geschlecht, Wohnort oder der sozioökonomische
Das heutige Gebäude des Parlaments der deutschsprachigen Gemeinschaft in Eupen, vor dem Bernd Scherer (r.) und Alois Hendges stehen, beherbergte 1963 noch das Staatliche Technische Institut. Hintergrund spielen dabei eine Rolle.
25 Personen nehmen daraufhin an der Bürgerversammlung statt. Das zu behandelnde Thema wird vom Bürgerrat festgelegt, der aus 24 vorigen Mitgliedern der Bürgerversammlung besteht, und dafür zuständig ist, den ganzen Prozess zu überwachen und zu organisieren.
Der Bürgerrat legt fest, wann, wie oft und wo die Bürgerversammlung zusammenkommt und entscheidet darüber, welche Experten einberufen werden können, um Expertise zu dem jeweiligen Thema zu sammeln. Um die Vereinbarung von Arbeit, Familie und Engagement in der Bürgerversammlung zu garantieren, finden Sitzungen an Wochenenden und Feiertagen statt, wobei die freiwillige Teilnahme mit einem Anwesenheitsgeld von rund 64 Euro pro Sitzung entgeltet wird.
Die Beschlüsse, die von der Bürgerversammlung mit Einstimmigkeit angenommen werden müssen, stellen Mitglieder der Versammlung in einem gemeinsamen Ausschuss mit Abgeordneten des Parlaments und dem zuständigen Minister vor. Daraufhin beziehen Minister und Abgeordnete Stellung zu den Beschlüssen der Bürgerversammlung und argumentieren, wie sie die Umsetzung der vorgeschlagenen Maßnahmen umsetzen werden. Eine Ablehnung der Beschlüsse muss ebenso begründet werden.
„Ich bin zwar Wechselwähler, habe den Gang zur Urne aber nie gemieden. Als ich ausgelost wurde, am Bürgerdialog teilzunehmen, war ich erst perplex, da ich das Konzept nicht kannte“, offenbart Alois Hendges. Der 68-Jährige, der zum Gespräch mit Bernd Scherer dazustößt, strahlt eine selbstbewusste Aura aus.
Das liegt wohl daran, dass Hendges über besonders viel Erfahrung im Rahmen des Bürgerdialogs verfügt. Er ist vor zwei Jahren in Pension gegangen und war 2019 an der ersten Bürgerversammlung zum Thema Pflege bereits beteiligt. Mit seiner Teilnahme wollte er „aktiv mitmischen“, teilt der 68-Jährige mit. „Ich bin zwar Opa und es gehen einige Wochenenden drauf, aber es ist schön, nicht eingezwängt in einem politischen Zaun darüber nachzudenken, welche Entscheidungen, Menschen in unserer Gesellschaft helfen könn
Bernd Scherer, der amtierende Vorsitzende des Bürgerrates, weist den Vorwurf zurück, beim Bürgerdialog handle es sich um eine bloße Alibiveranstaltung. ten“, beschreibt Hendges sein Engagement.
Der Jugend den Glauben an die Demokratie wiedergeben
Die Teilnahme am Bürgerrat hat Hendges und Scherer nicht nur einen Einblick in die internen Entscheidungsprozesse der Politik verschafft, sondern auch zu verstehen gegeben, was repräsentative Demokratie bedeutet: „Im Bürgerrat sitzen Bauarbeiter, ehemalige Lehrer, Pflegekräfte – sie repräsentieren alle eine bestimmte Schicht der Gesellschaft und wir müssen sie bei ihrem Stand abholen“, erzählt der Leistungs- und Kampfsportliebhaber Scherer, der über 20 Jahre als Mentor/Coach für diverse Unternehmen gearbeitet hat. „Menschen müssen bei ihrem Eintritt in die Bürgerversammlung erst verstehen, was es heißt, die Probleme aller Menschen anzusprechen, statt ihre eigenen Interessen vertreten zu wollen“, so Scherer weiter.
Hendges und Scherer haben ohne Vorbehalte die Teilnahme an der Bürgerversammlung angenommen, sind sich aber beide bewusst, dass die Wirksamkeit des Bürgerdialogs von ihren Kritikern genauestens unter die Lupe genommen wird – doch von einer Alibiveranstaltung möchte keiner der beiden Teilnehmer etwas hören: „Das Parlament steht hinter dem
Projekt. Es wird mit der Zeit an Wertigkeit zunehmen. Wir spüren, dass wir die Politik mit unseren Vorschlägen dazu motivieren, mehr auf die Bevölkerung zu hören“, bestätigt Alois Hendges.
Als PR für die Demokratie verstehe sich der Bürgerdialog Ostbelgiens, betont Scherer. Es gelte, sich politisch zu engagieren, um das Vertrauen in die Demokratie wiederherzustellen und „glaubwürdige Multiplikatoren“zu finden – zu denen besonders die Jugend gehört: „Demokratie muss die Sprache der Jugend sprechen können, um ihnen den Glauben zurückzugeben, dass sie durch Politik etwas verändern können“, so Scherer. Dass die Bürgerversammlung der Jugend diesen Glauben vermitteln kann, bestätigt Hendges, dessen Tochter zur selben Zeit wie er in der Bürgerversammlung aktiv war: „Es hat ihr Interesse für Politik geweckt. Sie hat ein anderes Bild von Demokratie übermittelt bekommen und erzählt es ihren Freundinnen weiter.“
Schlussendlich liegt es an den Menschen für ihre demokratische Überzeugung aufzustehen und durch ihre Beteiligung an alternativen Projekten wie dem Bürgerdialog die Werte der Demokratie hochzuhalten, ist sich Scherer sicher, „denn Institutionen stehen und fallen mit den Menschen, die sie ausmachen“.
Demokratie muss die Sprache der Jugend sprechen können. Bernd Scherer, amtierender Vorsitzender des Bürgerrates