Wer die Nachtigall stört
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Mr. Tensaw Jones war ein Anhänger der uneingeschränkten Prohibition; Miss Emily Davis schnupfte heimlich Tabak; Mr. Byron Waller konnte Geige spielen; Mr. Jake Slade war bei seinen dritten Zähnen angelangt.
Ein Wagen erschien, der eine Anzahl ungewöhnlich finster blickender Bürger geladen hatte. Gerade als sie missbilligend auf den leuchtenden Flor von Sommerblumen in Miss Maudie Atkinsons Hof deuteten, trat Miss Maudie auf die Veranda. Wir konnten ihre Gesichtszüge nicht deutlich erkennen, weil sie zu weit entfernt stand, aber das Eigentümliche an Miss Maudie war, dass sich ihre Gemütsverfassung stets in ihrer Körperhaltung widerspiegelte. Sie hatte die Arme in die Hüften gestemmt, die Schultern hingen ein wenig nach vorn, der Kopf war zur Seite geneigt, die Brille glitzerte im Sonnenlicht, und dies alles verriet uns, dass auf ihrem Gesicht ein ungemein boshaftes Grinsen lag.
Der Kutscher ließ die Maulesel langsamer gehen, und eine schrille Frauenstimme rief: „Wer da kommet in Eitelkeit, der scheidet in Finsternis!“
Miss Maudie antwortete: „Ein fröhliches Herz macht ein heiteres Angesicht!“
Die Fußwaschenden Baptisten dachten wohl, der Teufel zitiere die Bibel auf seine Art, denn der Kutscher trieb die Maulesel an und fuhr eilig weiter. Was sie gegen Miss Maudies Garten einzuwenden hatten, war mir ein Rätsel, umso mehr, als Miss Maudie, obgleich sie sich den ganzen Tag im Freien aufhielt, über erstaunliche Bibelkenntnisse verfügte.
Wir schlenderten zu ihr hinüber. „Gehen Sie heute zur Verhandlung?“, erkundigte sich Jem.
„Ich denke nicht daran“, erwiderte sie. „Beim Gericht habe ich heute Morgen nichts verloren.“
„Aber wollen Sie denn nicht zusehen?“, fragte Dill.
„Auf keinen Fall. Es ist morbide, dabei zuzusehen, wie ein armer Teufel um sein Leben kämpft. Schaut euch nur all die Leute an – der reinste römische Karneval.“
„Gerichtsverhandlungen müssen öffentlich sein, Miss Maudie“, wandte ich ein. „Es wäre sonst ungesetzlich.“
„Das weiß ich. Aber ich brauche doch nicht hinzugehen, nur weil die Verhandlung öffentlich ist, nicht wahr?“
Miss Stephanie Crawford kam vorbei. Sie trug Hut und Handschuhe. „Oje, oje, oje“, sagte sie. „So viele Menschen … Man könnte denken, William Jennings Bryan hält eine Rede.“
„Und wo willst du hin, Stephanie?“, erkundigte sich Miss Maudie.
„Ins Jitney Jungle.“
Sie habe noch nie erlebt, dass Miss Stephanie einen Hut aufsetze, um in den Supermarkt zu gehen, bemerkte Miss Maudie.
„Ach“, sagte Miss Stephanie, „ich dachte, ich könnte mal in den Gerichtssaal reinschauen und sehen, was Atticus vorhat.“
„Nimm dich nur in Acht, dass er dich nicht in den Zeugenstand ruft.“
Als wir Miss Maudie fragten, wie das gemeint sei, erwiderte sie, Miss Stephanie scheine so viel über den Fall zu wissen, dass sie ohne weiteres als Zeugin auftreten könne.
Wir trieben uns auf dem Hof herum, bis Atticus mittags nach Hause kam. Er erzählte, sie hätten den Morgen mit der Auswahl der Geschworenen verbracht. Nach dem Mittagessen holten wir Dill ab und gingen in die Stadt.
Es war wirklich wie bei einem Volksfest. An dem Geländer zum
Anbinden von Zugtieren war jedes Plätzchen besetzt, und unter allen Bäumen hatte man Mauleselgespanne abgestellt. Zahlreiche Picknickgesellschaften bevölkerten den Marktplatz. Sie saßen auf Zeitungspapier und spülten Sirupbiskuits mit warmer Milch aus Marmeladengläsern hinunter. Einige nagten an Hühnerkeulen oder kalten Schweinekoteletts. Die Wohlhabenderen hatten sich aus dem Drugstore Coca-Cola geholt, das sie aus zwiebelförmigen Sodagläsern tranken. Kinder mit fettbeschmierten Gesichtern spielten Schlange in dem Gedränge, und Säuglinge suchten sich ihre Nahrung an der mütterlichen Brust.
In einer entlegenen Ecke des Platzes saßen die Neger ruhig in der Sonne, aßen Sardinen mit Zwieback und tranken dazu das aromatische Nehi-Cola. In ihrer Mitte entdeckten wir Mr. Dolphus Raymond.
„Jem“, rief Dill, „der trinkt ja aus ’ner Tüte!“
Tatsächlich: Zwei gelbe Strohhalme führten von Mr. Raymonds Mund in die Tiefen einer braunen Papiertüte.
„Na, so was“, murmelte Dill. „Wie bleibt denn das drin, was drin ist?“
Jem kicherte. „Er hat eine CocaCola-Flasche voll Whisky in der Tüte versteckt. Damit sich die Ladys nicht über ihn aufregen, weißt du? Pass auf, er nuckelt den ganzen Nachmittag an den Strohhalmen. Von Zeit zu Zeit geht er weg und füllt die Flasche auf.“
„Und warum sitzt er bei den Farbigen?“
„Tut er immer. Wahrscheinlich mag er sie lieber als uns. Er wohnt an der Südgrenze von Maycomb County, ganz für sich, hat eine farbige Frau und Mischlingskinder in allen Schattierungen. Wenn welche von ihnen kommen, zeig ich sie dir.“
„Er sieht gar nicht nach Gesindel aus.“
„Ist er auch nicht. Er stammt aus einer der ältesten Familien, und er hat eine Menge Land – die eine Seite vom Flussufer da unten gehört ihm.“
„Warum lebt er dann so?“
„Das ist nun mal seine Art“, meinte Jem. „Die Leute sagen, er ist nie über seine missglückte Hochzeit hinweggekommen. Er war verlobt – mit einer von den Spenders, glaube ich –, und sie wollten eine Riesenhochzeit feiern. Aber daraus wurde nichts. Am Tag vor der Trauung hat sich die Braut erschossen. Mit ’ner Schrotflinte. Hat mit den Zehen abgedrückt.“
„Und weiß man, warum?“„Nein“, erwiderte Jem.
„Das weiß niemand außer Mr. Dolphus. Angeblich hat sie die Geschichte mit der farbigen Frau rausgekriegt. Er dachte wohl, er könnte die eine behalten und trotzdem die andere heiraten. Seither ist er immer betrunken.“
(Fortsetzung folgt)