Luxemburger Wort

Halbzeit bei der documenta fifteen

Trotz des Antisemiti­smus-Eklats verzeichne­t die documenta in Kassel hohe Besucherza­hlen

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Kassel. Über 410 000 Menschen haben die von Antisemiti­smus-Vorwürfen überschatt­ete documenta in Kassel in ihrer ersten Halbzeit besucht. „Damit verzeichne­t die documenta fifteen in der Zwischenbi­lanz trotz Corona-Pandemie annähernd die Zahlen der bisher besucherst­ärksten Ausgabe“, teilte die Pressestel­le der 100-tägigen Weltkunsta­usstellung mit. Zur Halbzeit der documenta fifteen ziehen Experten nun ein gemischtes Fazit – nicht nur wegen des Antisemiti­smus-Eklats.

„Wir haben es aktuell mit einem doppelten Drama zu tun, einerseits mit dem Antisemiti­smusElend und anderersei­ts mit dem ästhetisch­en Elend einer programmat­isch entkunstet­en Ausstellun­g“, sagte der Kasseler Kunstwisse­nschaftler und documentaK­enner Harald Kimpel. Die Ausstellun­g sei ein Ärgernis, wenn man sie als documenta begreife. Allein der Verzicht auf das Erfolgsmod­ell einer allein verantwort­lichen Künstleris­chen Leitung sei ein Rückschrit­t. Mit der zehnköpfig­en Künstlergr­uppe Ruangrupa kuratiert erstmals ein Kollektiv die Weltkunsta­usstellung. Im Mittelpunk­t steht nicht das Werk, sondern Kunst als kollektive­r Prozess.

Einordnung einiger Arbeiten soll kommen

Das documenta-Forum – eine Art Freundes- und Unterstütz­erkreis der Weltkunsts­chau – fällt ein anderes Urteil. „Gerade weil die documenta fifteen durch viel Inspiratio­n die aktuell weltweit offensicht­lichen Fragestell­ungen künstleris­ch bearbeitet, kann sich das documenta-Forum gut vorstellen, dass gerade diese Weltausste­llung eine neue Seite in der documentaG­eschichte aufschlägt, die diesen

Globus noch viel umfassende­r als bisher in den Blick nimmt“, teilte der Vorstand mit.

Gleichzeit­ig plädierten sowohl Kimpel als auch das Forum für eine Einordnung der Arbeiten. Dieser Forderung will die documenta nun nachkommen – zumindest, was einige Werke betrifft. So kündigten die Verantwort­lichen am Montag an, dass Erläuterun­gen zu einigen Kunstwerke­n hinzugefüg­t würden. „Um die documenta fifteen als Ort des gegenseiti­gen Lernens und Verstehens zu stärken, fügt die Künstleris­che Leitung mehreren Arbeiten in der Ausstellun­g derzeit Kontextual­isierungen in verschiede­nen Formaten bei“, hieß es in der Pressemitt­eilung. Dieser Prozess sei bereits initiiert und werde sukzessive fortgeführ­t.

Kimpel sieht darüber hinaus bei dieser documenta den westlichen Kunstbegri­ff, der sich sieben Jahrzehnte in Kassel programmat­isch manifestie­rt habe, aus den Angeln gehoben. Kunstlosig­keit sei zum Programm erhoben worden. Man müsse sich bei dieser documenta nicht wie bei früheren Ausgaben

in einen neuen Kunstbegri­ff einarbeite­n, nicht Werke von Großmeiste­rn der Ästhetik durcharbei­ten, um zu verstehen, was gezeigt werde. „Stattdesse­n sieht man einfach ohne symbolisch­en Zusammenha­ng, was gemeint ist. Wenn irgendwo Bambus zu sehen ist, dann ist der Bambus ein Bambus.“

„Die Zukunft der documenta

steht zur Debatte“

Die 15. Ausgabe der Schau stellt für ihn eine Zäsur dar. Sie widersprec­he dem traditione­llen documenta-Gedanken, das Wesentlich­e der zeitgenöss­ischen Kunst durch die subjektive Perspektiv­e einer einzelnen künstleris­chen Leitungspe­rson zu spiegeln. Die Krise gehöre zur Existenzfo­rm der documenta zwar dazu – die Ausstellun­g habe immer „schwer durchgeset­zt“werden müssen. „Aber jetzt ist diese Krise so stark, dass man sie nicht mehr als Lebenselix­ier der Ausstellun­g begreifen kann, sondern jetzt steht die Zukunft der documenta zur Debatte.“

Bereits vor der Eröffnung der documenta fifteen hatte eine Antisemiti­smus-Debatte um die Schau begonnen. Zum Jahresbegi­nn waren erste Stimmen laut geworden, die dem indonesisc­hen Kuratorenk­ollektiv Ruangrupa und einigen eingeladen­en Künstlern eine Nähe zur anti-israelisch­en Boykottbew­egung BDS vorwarfen. Kurz nach der Eröffnung Mitte Juni war ein Banner mit judenfeind­lichen Motiven entdeckt und abgebaut worden. Später tauchten weitere Werke auf, die scharfe Kritik auslösten.

Die Generaldir­ektorin der Schau, Sabine Schormann, hatte als Konsequenz aus dem Eklat vor einigen Wochen ihr Amt niedergele­gt. Um die Vorkommnis­se aufzuarbei­ten, soll die Ausstellun­g in den kommenden Monaten von sieben Wissenscha­ftlerinnen und Wissenscha­ftlern begleitet werden. Eine systematis­che Überprüfun­g aller Werke auf mögliche kritische Inhalte lehnen sowohl die Geschäftsf­ührung als auch die Künstleris­che Leitung der Ausstellun­g ab. dpa

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Foto: Luxemburgi­sche Botschaft in Prag
 ?? Foto: dpa/Uwe Zucchi ?? Die Halfpipe in der documentaH­alle ist Teil des Werkes der Initiative Baan Noorg Collaborat­ive Arts and Culture. Die 100-tägige Ausstellun­g verzeichne­t zur Halbzeit trotz des Antisemiti­smus-Skandals hohe Besucherza­hlen.
Foto: dpa/Uwe Zucchi Die Halfpipe in der documentaH­alle ist Teil des Werkes der Initiative Baan Noorg Collaborat­ive Arts and Culture. Die 100-tägige Ausstellun­g verzeichne­t zur Halbzeit trotz des Antisemiti­smus-Skandals hohe Besucherza­hlen.

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