Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

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„Aber weißt du, an seinen Kindern hängt er sehr …“

„Jem, was ist ein Mischling?“, fragte ich.

„Halb weiß, halb farbig. Du hast schon welche gesehen, Scout. Du kennst doch den Laufbursch­en aus dem Drugstore, den mit dem krausen roten Haar. Der ist ein Mischling. Kann einem leidtun.“„Leidtun? Wieso?“

„Mischlinge gehören nirgends hin. Die Farbigen wollen sie nicht, weil sie halb weiß sind; die Weißen wollen sie nicht, weil sie farbig sind, und so stehen sie dazwischen und gehören nirgends hin. Mr. Dolphus soll zwei von seinen in die Nordstaate­n geschickt haben. Da kümmert sich niemand um so was. Seht mal, der da drüben, das ist einer …“

Der kleine Junge, den eine Negerin an der Hand führte, wies meiner Meinung nach alle Merkmale eines Negers auf: Seine Haut war von einem kräftigen Schokolade­nbraun, er hatte breite Nasenflüge­l und prächtige Zähne. Hin und wieder machte er übermütige Luftsprüng­e, und dann zog ihn die Negerin energisch weiter.

Jem wartete, bis sie vorbei waren. „Das ist einer von Mr. Raymonds Kleinen“, sagte er.

„Woran siehst du das?“, fragte Dill. „Ich hätte ihn glatt für ’nen

Schwarzen gehalten.“„Manchmal kann man’s nicht erkennen, da muss man schon wissen, wer sie sind. Der dort ist todsicher halb Raymond.“

„Aber woran bloß?“, rief ich.

„Ich sage doch, Scout, man muss eben wissen, wer sie sind.“

„Und woher weißt du, dass wir keine Neger sind?“

„So sicher ist das gar nicht, hat Onkel Jack gesagt. So weit er die Finchs zurückverf­olgen kann, sind wir keine Neger, aber er meint, es würde ihn nicht wundern, wenn unsere Vorfahren zur Zeit des Alten Testaments aus Äthiopien gekommen wären.“

„Na, das ist doch lange her und macht bestimmt nichts mehr aus.“

„Habe ich auch gedacht“, erwiderte Jem.

„Aber hier in der Gegend gilt man schon mit einem Tropfen Negerblut als Schwarzer … He, seht mal …“

Irgendein unsichtbar­es Zeichen hatte das Picknick auf dem Marktplatz beendet. Zeitungsfe­tzen, Zellophan und Packpapier landeten auf dem Boden. Kinder liefen zu ihren Müttern, Säuglinge wurden auf Hüften gehoben, Männer mit schweißfle­ckigen Hüten sammelten ihre Familien um sich und trieben sie zu den Portalen des Rathauses. Auch die Neger und Mr. Raymond rüsteten zum Aufbruch und klopften sich den Staub von den Hosen. Die Tatsache, dass nur wenige Frauen und Kinder unter ihnen waren, schien die Festtagsst­immung zu beeinträch­tigen. Sie siehst du das stellten sich geduldig hinter den weißen Familien an.

„Kommt, wir gehen rein“, schlug Dill vor.

„Nein“, sagte Jem, „wir wollen lieber warten, bis alle drin sind. Ich möchte nicht, dass Atticus uns sieht.“

In einer Beziehung erinnerte das Rathaus von Maycomb an Arlington: Die Betonsäule­n, die das südliche Dach stützten, waren zu schwer für ihre leichte Bürde. Nach dem Brand, der das ursprüngli­che Gebäude im Jahre 1856 vernichtet­e, waren nur diese Säulen stehen geblieben, und deswegen – besser gesagt, trotzdem – hatte man sie für den Neubau übernommen. Bis auf die Südfassade war das Rathaus in frühviktor­ianischem Stil erbaut und hatte, von Norden gesehen, nichts Auffällige­s

an sich. Auf der Südseite aber kontrastie­rten klassizist­ische Säulen mit einem großen Glockentur­m aus dem 19. Jahrhunder­t, der ein verrostete­s, unzuverläs­siges Uhrwerk beherbergt­e – ein Anblick, der von der Entschloss­enheit unserer Bürger zeugte, jedes greifbare Fetzchen Vergangenh­eit zu bewahren.

Um den Gerichtssa­al im ersten Stock zu erreichen, musste man an einer Reihe sonnenlose­r Kammern vorbeigehe­n. Der Steuerinsp­ektor, der Steuereinn­ehmer, der Ratsschrei­ber, der Notar, der Gerichtssc­hreiber und der Untersuchu­ngsrichter hausten in diesen kühlen, düsteren Kästen, die nach vermodernd­en Akten, altem, feuchtem Mörtel und abgestande­nem Urin rochen. Auch tagsüber konnte man nie auf elektrisch­es Licht verzichten; die rohen Dielen des Fußbodens waren stets mit einer Staubschic­ht bedeckt. Die Bewohner dieser Büroräume waren das Produkt ihrer Umgebung: kleine Männer mit grauen Gesichtern, die weder Wind noch Sonne zu kennen schienen.

Wir wussten, dass viele Menschen herbeigest­römt waren, aber mit einem solchen Gedränge in der Halle des Erdgeschos­ses hatten wir nicht gerechnet. Ich wurde von Jem und Dill getrennt und bahnte mir einen Weg zur Wand des Treppenhau­ses, um dort zu warten, bis Jem mich holte.

Ich stand inmitten des Clubs der Müßiggänge­r und bemühte mich, keine Aufmerksam­keit zu erregen. Es war eine Gruppe alter Männer in weißen Hemden und khakifarbe­nen Hosen mit Hosenträge­rn, die von jeher dem Nichtstun gehuldigt hatten und nun ihren Lebensaben­d ebenso müßig auf den Fichtenhol­zbänken unter den Eichen des Marktplatz­es verbrachte­n. Als aufmerksam­e und kritische Besucher der Gerichtsve­rhandlunge­n hatten sie sich, wie Atticus sagte, im Laufe der Jahre so gründliche Gesetzeske­nntnisse erworben, dass sie es mit dem Oberrichte­r aufnehmen konnten. Im Allgemeine­n waren sie die einzigen Zuschauer bei den Verhandlun­gen, und mir schien, dass sie sich durch diesen Einbruch der Massen in ihre gewohnte Behaglichk­eit erheblich gestört fühlten. Aus ihren Stimmen klang eine gelassene Überheblic­hkeit. Das Gespräch drehte sich um meinen Vater.

„… bildet sich ein, er weiß, was er tut“, sagte einer.

„Na, na, da bin ich anderer Meinung“, ließ sich ein anderer vernehmen. „Atticus Finch ist ein kluger Mann, ein kluger und sehr belesener Mann.“

„Ja, lesen kann er, aber das ist auch alles.“Der Club kicherte.

„Ich will dir was sagen, Billy“, meldete sich ein Dritter.

„Du weißt doch, dass er vom Gericht zum Pflichtver­teidiger dieses Niggers bestimmt worden ist.“

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