Träumen auf den Bäumen
Unterwegs in Belgiens einzigem Unesco Global Geopark
Nur wenige Hundert Meter entfernt streifen die mächtigen Braunbären durch das Gelände. Gleichwohl wiegen einen das Rauschen der Blätter und der sanfte Wind in dieser sternenklaren Nacht unaufgeregt und sanft in den Schlaf. Mit Anbruch der Dämmerung übernimmt das Gezwitscher der Vögel die Funktion eines natürlichen Weckers. Und der Tag beginnt in drei Metern Höhe beim vorsichtigen Öffnen des Reißverschlusses des Baumzelts, wie der vorherige geendet ist: mit faszinierenden Blicken auf den Parc Animalier, den Tierpark im belgischen Han-surLesse, der sich rühmen darf, mit Bär, Wolf, Luchs, Bison und Vielfraß die europäischen „Big Five“zu beheimaten.
Hirsche, Auerochsen, Mufflons
Von der kleinen Plattform vor dem Tree Tent fallen aber eher andere Tiere in den Blick. Denn in diesem Teil des weitläufigen Parks mit seinen drei Dutzend Tierarten tummeln sich vorwiegend Hirsche, Rehe, Auerochsen, Przewalski-Pferde oder Mufflons. Doch auch dies sorgt zusammen mit den fast 170 Vogelarten, die in der Wallonie anzutreffen sind, für tierische Begeisterung bei Klein und Groß. Und den „Big Five“lässt sich bei einem entspannten Spaziergang ebenfalls binnen Minuten ein Besuch abstatten.
Der ungewöhnliche Schlafplatz im weiten Tal der Lesse, des 94 Kilometer langen Nebenflusses der Maas, sorgt abseits jeglichen städtischen Lärms im wahrsten Sinne des Wortes für natürliche Entspannung. Auch auf das obligatorische Smartphone lässt sich hier gut verzichten. Empfang gibt es eh nicht. Daher dient das Handy allenfalls dazu, Schnappschüsse zu erstellen oder mit der Taschenlampen-Funktion in der Dunkelheit der Nacht den Weg zum Toilettenhäuschen zu finden.
Der weitläufige Parc Animalier liegt inmitten des 915 Quadratkilometer großen Unesco Global Geoparks Famenne-Ardenne und befindet sich dabei in exzellenter Nachbarschaft. Denn direkt angrenzend avancieren die Grotten von Han-sur-Lesse nicht von ungefähr zu einer der größten Attraktionen in der von tiefen Wäldern, steilen Schieferfelsen und Kalkterrassen geprägten Region.
„Die Gesteinsformationen des riesigen Höhlensystems bildeten sich während des Devons aus, also vor mehr als 360 Millionen Jahren“, weiß Isabelle Köchli zu berichten. Im gleichen Atemzug verdeutlicht die Mitarbeiterin der Domaine des Grottes de Han, dass die beeindruckten Tropfsteinhöhlen im Laufe der Jahrtausende insbesondere durch das Wasser der Lesse geformt wurden.
„Ziemlich geräumig, aber auch ein bisschen feucht die Bude“, flachst ein Jugendlicher, während ansonsten entlang des fast 2,5 Kilometer langen Wegs durch die
Kalksteingrotten überwiegend „Ahs“und „Ohs“als Ausdrücke des kollektiven Erstaunens zu vernehmen sind. Zum Teil gigantisch große Stalaktiten und Stalagmiten prägen die bizarre Gesteinswelt rund 110 Meter unter dem Erdboden ebenso wie riesige Säle. Deren Größter, der Salle du Dôme, weist eine 62 Meter hohe Kuppel auf und dient als Projektionsfläche für „Origin“: eine fesselnde Ton- und Lichtshow von Künstler Luc Petit.
Auch unabhängig davon sind die Grotten, die von Han-sur-Lesse aus seit dem Jahr 1906 bequem mit einer historischen Schmalspurbahn zu erreichen sind, überaus faszinierend. Bizarre Gesteinsformationen wechseln sich mit filigranen Tropfsteinstangen ab. In den vielen kleinen Wasserstellen und Seen spiegeln sich die mal von unten nach oben und mal von oben nach unten wachsenden Säulen.
Geschichte live erleben
„Durch die Auflösung der Kalklagen entstanden im Laufe der Jahrtausende in Folge des permanent eindringenden Wassers und durch mechanische Verwerfungen unzählige Gänge und Höhlen“, so Isabelle Köchli, die beim Gang durch die Grotten immer wieder Neues oder Verändertes entdeckt.
Die außergewöhnlichen Karstgrotten liegen inmitten des ersten (und bislang einzigen) Unesco Global Geoparks in Belgien. Im Jahr 2018 erhielt die Region Famenne-Ardenne den prestigeträchtigen Ritterschlag durch die Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft, Kultur und Kommunikation.
„Im Geopark finden sich mehr als 1 000 Karststandorte, an denen Grotten, Dolinen und Quellaustritte
Der Tierpark im belgischen Han-sur-Lesse darf sich rühmen, die europäischen „Big Five“zu beheimaten.
entdeckt werden können“, erklärt Alain Petit, Direktor des Geoparks Famenne-Ardenne, der auf die ungeahnte Vielfalt der Region auch abseits der Tropfsteinhöhlen verweist.
„Der Geopark ist in keiner Form begrenzt oder umzäunt. Jeder kann sich hier frei bewegen“, unterstreicht Petit. Eintrittsgelder müssen lediglich für Attraktionen wie Schlösser oder Höhlen gezahlt werden. Mit dem Fokus auf die Natur, so der Geopark-Mitarbeiter weiter, wäre es überaus wünschenswert, wenn möglichst viele die Region zu Fuß oder per Rad erkunden würden – doch die Topographie der Ardennen führe leider verständlicherweise dazu, dass die meisten das Auto nutzen, um den landschaftlich faszinierenden Unesco Geopark zu erkunden.
Die kleinste Stadt der Welt
Pulsierendes Herzstück der Region Famenne-Ardenne ist mit Durbuy die vermeintlich kleinste Stadt der Welt. Obschon auch das kroatische Hum und das schleswig-holsteinische Städtchen Arnis den Titel für sich reklamieren, stimmen die Menschen in der Wallonie eindrucksvoll mit den Füßen ab.
Tagsüber herrscht in den charmanten wie malerischen Gassen mit ihren Kalkstein- und Fachwerkhäuschen drangvolle Enge. Über allem thront das Château d’Ursel. Das Schloss ist noch heute im Besitz des gleichnamigen Grafen und öffentlich nicht zu
Der Parc des Topiaires präsentiert auf 10 000 Quadratmetern mehr als 250 pflanzliche Kunstwerke.
gänglich. Dafür aber der am gegenüberliegenden Ufer der Ourthe gelegene größte Formgarten der Welt. Der Parc des Topiaires präsentiert auf 10 000 Quadratmetern mehr als 250 pflanzliche Kunstwerke, die überwiegend aus Buchsbaumgewächsen bestehen.
„Bei all dem Trubel lässt sich in Durbuy dennoch die Faszination des Geoparks hautnah erleben“, so Alain Petit weiter. Denn am Rande des Städtchens erhebt sich oberhalb eines Teichs ein mächtiger, fast kegelförmiger Berg. Die sogenannte Antiklinale (geologischer
Ungewöhnlicher Schlafplatz im Wald: Wer im Parc Animalier in einem Baumzelt übernachtet, startet mit dem Gezwitscher der Vögel und in drei Metern Höhe in den Tag.
Sattel) von Durbuy, auch „Roche à la Falize“genannt, bildete sich im Laufe der Jahrtausende durch Falten und Verwerfungen aus und offenbart die unterschiedlichen geologischen Schichten. Sichtbarer werden Millionen von Jahren der Erdgeschichte wohl kaum.