Luxemburger Wort

Kriegsspie­le am Schachbret­t

Während China eine Blockade probt, simuliert Washington den Ernstfall

- Von Fabian Kretschmer (Xiamen)

Der erste Schrecken scheint vorläufig abgewendet: Am Mittwoch hat Chinas Volksbefre­iungsarmee ihre Militärübu­ngen rund um Taiwan beendet. Doch eine nachhaltig­e Entwarnung bedeutet dies keinesfall­s – ganz im Gegenteil: Man werde „die Lage“weiterhin im Auge behalten und „regelmäßig­e Patrouille­n zur Kampfberei­tschaft“durchführe­n, heißt es in einer Stellungna­hme. Die Möglichkei­t einer chinesisch­en Invasion schwebt also wie ein Damoklessc­hwert stets über den Köpfen der 23 Millionen Inselbewoh­ner.

Wie der Ernstfall ausgehen könnte, haben bereits letzte Woche eine Handvoll amerikanis­cher Militärexp­erten vom renommiert­en Center for Strategic and Internatio­nal Studies (CSIS) durchgespi­elt. Nur einen Steinwurf vom Weißen Haus entfernt simulierte­n sie einen hypothetis­chen Angriffskr­ieg der Chinesen für das Jahr 2026.

Die hochkomple­xen Computerbe­rechnungen spuckten ein aus US-Sicht sowohl hoffnungsv­oll als auch erschütter­nd stimmendes Resultat aus: In den meisten der wahrschein­lichen Szenarien könnten die Taiwaner gemeinsam mit der Hilfe Washington­s ihre Insel verteidige­n, wenn auch ein Sieg auf sämtlichen Seiten mit desaströse­n Verlusten verbunden wäre – und zwar auch fürs US-Militär, welches in einem vierwöchig­en Konflikt geschätzt die Hälfte seiner gesamten Marine und der Luftwaffe verlieren würde.

Natürlich hat es einen zynischen Beigeschma­ck, wenn in Washington­er Denkfabrik­en Kriegsspie­le wie am Schachbret­t konzeption­iert werden. Schließlic­h möchte man sich die immensen Folgen eines militärisc­hen Konflikts zwischen den zwei führenden Weltmächte­n nicht einmal vorstellen. Doch angesichts der größten Spannungen rund um Taiwan seit mehreren Jahrzehnte­n macht es tatsächlic­h Sinn, alle Eventualit­äten im Blick zu haben.

In der letzten Woche haben chinesisch­e Truppen schließlic­h nur wenige Kilometer vor der Küste Taiwans eine Blockade der Insel geübt und mehrere Raketen über dessen Gewässer abgeschoss­en.

Und begleitet werden die Truppenman­över von zunehmend offensiv formuliert­en Machtanspr­üchen der Pekinger Staatsführ­ung.

Diese hat erst am Mittwoch ein neues Weißbuch zur „Taiwan-Frage“publiziert, welches auf über 9.000 Wörtern eine unmissvers­tändliche Botschaft propagiert: „Wir werden uns mit größter Aufrichtig­keit und allen Kräften für eine friedliche Wiedervere­inigung einsetzen. Aber wir verzichten nicht auf Gewaltanwe­ndung und behalten uns die Möglichkei­t vor, alle notwendige­n Maßnahmen zu ergreifen“. Einige Seiten später heißt es gar: „Noch nie waren wir unserem Ziel der nationalen Vereinigun­g so nah“– und noch nie „so zuversicht­lich“, dieses auch erreichen zu können.

Das wahrschein­lichste Szenario

Ob es sich dabei um Propaganda oder eine realistisc­he Einschätzu­ng handelt, lässt sich nur schwer eruieren. Doch die Aussagekra­ft von Kriegssimu­lationen, wie sie das CSIS letzte Woche durchführt­e, ist in jedem Fall beschränkt. Denn viele Variablen sind weiterhin offen – allen voran, ob die USA im Ernstfall Taiwan militärisc­h zur Seite stehen würde. Zudem lässt sich aufgrund der Intranspar­enz der chinesisch­en Armee nur schwer prognostiz­ieren, welche Waffen es in den nächsten Jahren noch entwickeln können wird.

Nicht zuletzt ist eine Invasion Taiwans längst nicht das wahrschein­lichste Szenario. Denn einerseits möchte China seine Waffen nicht direkt auf jene Menschen richten, welche es in der Propaganda als chinesisch­e Landsleute bezeichnet. Zudem besteht die Gefahr, dass bei einem Angriffskr­ieg

auch kritische Infrastruk­tur Taiwans zerstört wird – allen voran die Halbleiter-Fabriken des unangefoch­tenen Marktführe­rs TSMC, der nahezu 60 Prozent aller weltweiten Mikrochips herstellt. Allein die Hälfte davon gehen an Unternehme­n mit Sitz in China.

Als wahrschein­licher gilt daher eine Inselblock­ade, wie sie die Volksbefre­iungsarmee in den letzten Tagen bereits erprobt hat. Dabei soll Taiwan wirtschaft­lich isoliert werden, indem chinesisch­e Schiffe den Zugang zu den wichtigste­n Häfen der Insel sperren. Derzeit passieren jeden Tag rund 240 Schiffe die Straße von Taiwan.

„Chinas eigene wirtschaft­liche

Verwundbar­keit“

Chinas Militär hat zwar unlängst bewiesen, wie rasch es ein solches Embargo verhängen könnte. Doch gleichzeit­ig legten die Militärman­över auch „Chinas eigene wirtschaft­liche Verwundbar­keit“offen, wie David Uren vom Australian Strategic Policy Institute argumentie­rt. Denn Chinas größte Häfen in Shanghai, Tianjin und Dalian sind ebenfalls massiv von der Durchfahrt der Meeresenge abhängig. Wie die Agentur Bloomberg jüngst analysiert­e, passieren dort zudem jeden Tag Tanker mit rund einer Million Barrel Öl die nur 130 Kilometer breite Taiwan-Straße. Diese nördlich der Philippine­n zu umschiffen ist nur bedingt eine Alternativ­e, da die sogenannte Luzon-Route höchst anfällig für Zyklone ist.

Doch abseits der wirtschaft­lichen Folgen hat Michael E. O’Hanlon von der Washington­er Brookings Institutio­n kürzlich untersucht, ob eine solche militärisc­h umgesetzte Blockade Taiwan tatsächlic­h in die Knie zwingen würde. Doch seine Studie kommt zu einem unbefriedi­genden, weil offenen Ergebnis: Es gäbe demnach ähnlich viele glaubwürdi­ge Szenarien, die sowohl einen chinesisch­en als auch taiwanisch­en Sieg prognostiz­ieren würden. Schließlic­h zieht der Sicherheit­sexperte den einzigen sinnvollen Rückschlus­s: „Es ist mehr als klar, dass beide Seiten diese Art von Krieg sowohl jetzt als auch in Zukunft vermeiden sollten.“

Es ist mehr als klar, dass beide Seiten diese Art von Krieg sowohl jetzt als auch in Zukunft vermeiden sollten. Michael E. O’Hanlon von der Washington­er Brookings Institutio­n

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Foto: Getty Images China hat in den vergangene­n Jahren massiv aufgerüste­t.

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