Wer die Nachtigall stört
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„Ja, schon, aber Atticus will ihn wirklich verteidigen, und das ist es, was mir nicht schmeckt.“
Für mich war das etwas ganz Neues, und es warf ein anderes Licht auf die Sache: Atticus musste die Verteidigung übernehmen, ob er wollte oder nicht. Seltsam, dass er uns das nie erzählt hatte. Wir hätten dieses Argument so gut benutzen können, wenn man ihn und uns angriff. „Er muss es tun, und darum tut er’s“– auf diese Weise wäre uns manche tätliche Auseinandersetzung erspart geblieben. Aber erklärte das die Haltung der Stadt? Das Gericht hatte Atticus zum Pflichtverteidiger des Negers bestimmt. Atticus wollte ihn wirklich verteidigen. Und das war es, was ihnen nicht schmeckte? Ich wurde einfach nicht schlau aus der ganzen Geschichte.
Nun strömten die Neger herein, die den Weißen den Vortritt gelassen hatten. „Halt, Moment mal“, sagte ein Clubmitglied und hielt seinen Spazierstock hoch. „Wartet noch ’ne Weile, bevor ihr raufgeht.“
Die Clubmänner begannen steifbeinig die Treppe hinaufzusteigen. Dill und Jem, die auf der Suche nach mir herunterkamen, quetschten sich an ihnen vorbei, und Jem rief: „Wo bleibst du denn,
Scout? Im Saal ist kein einziger Platz mehr frei. Wir müssen stehen. Na bitte, da hast du’s“, fügte er gereizt hinzu, als die Farbigen an uns vorbei strömten. Er teilte mir mit, dass uns die alten Männer inzwischen die besten Stehplätze wegschnappen würden, dass wir das Nachsehen hätten, und nur durch meine Schuld.
Wir standen kläglich an der Wand.
„Könnt ihr nicht rein?“Reverend Sykes, den schwarzen Hut in der Hand, blickte auf uns herab.
„Guten Tag, Reverend“, sagte Jem. „Nein, Scout hat uns alles verpatzt.“
„Na, wir wollen mal sehen, was sich machen lässt.“
Reverend Sykes bahnte sich einen Weg nach oben und kam gleich darauf zurück. „Im Saal ist kein Platz mehr. Aber wenn ihr glaubt, dass es in Ordnung ist, könnt ihr mit mir auf die Galerie kommen.“
„Ja, klar“, rief Jem, und wir rannten beglückt vor dem Reverend her. Vom ersten Stock führte eine Seitentreppe zu einer Tür hinauf, vor der wir warteten. Reverend Sykes folgte uns pustend und steuerte uns behutsam an den Schwarzen auf der Galerie vorbei. Vier Neger standen auf und überließen uns ihre Plätze in der ersten Reihe.
Die Galerie für Farbige lief wie ein Balkon um drei Wände des Gerichtssaales, und von dort aus konnten wir alles sehen. Die Geschworenen saßen links, unter den hohen Fenstern. All diese sonnengebräunten, hageren Männer schienen Farmer zu sein, aber das war nicht weiter verwunderlich. Stadtleute wurden selten als Geschworene berufen: Entweder lehnte man sie ab, oder sie ließen sich entschuldigen. Einige der Geschworenen sahen ungefähr wie Cunninghams im Sonntagsstaat aus. Sie hielten sich alle sehr aufrecht und blickten wachsam umher.
Der Staatsanwalt und ein anderer Mann, Atticus und Tom Robinson saßen an Tischen, mit dem Rücken zu uns. Vor dem Staatsanwalt lagen ein braunes Buch und ein paar gelbe Schreibblöcke. Vor Atticus lag nichts.
Unmittelbar an dem Geländer, das die Zuschauer vom Gericht trennte, hatten die Zeugen auf lederbezogenen Stühlen Platz genommen. Auch sie kehrten uns den Rücken zu.
Richter Taylor führte den Vorsitz. Er sah aus wie ein schläfriger alter Hai; der Lotsenfisch zu seinen Füßen schrieb emsig.
Wie die meisten Richter, die ich kannte, war Richter Taylor liebenswürdig, weißhaarig und hatte ein leicht gerötetes Gesicht. Seine Verhandlungen zeichneten sich durch eine bestürzende Formlosigkeit aus: Er legte mitunter die Füße auf den Tisch und reinigte sich häufig die Fingernägel mit seinem Taschenmesser. Bei langen Plädoyers – besonders nach dem Essen – konnte man glauben, dass er sanft schlummere; dieser Glaube wurde jedoch auf ewig zerstört, als einmal ein Rechtsanwalt, in dem verzweifelten Bemühen, ihn aufzuwecken, einen Stoß Akten auf den Fußboden warf. „Mr. Whitley“, murmelte Richter Taylor, ohne die Augen zu öffnen, „beim nächsten Mal kostet Sie das hundert Dollar.“
Er war ein versierter Jurist, und wenn er auch seinen Beruf leichtzunehmen schien, so behielt er doch bei allen Verhandlungen das Heft in der Hand. Nur einmal hatte er Schiffbruch erlitten, und zwar war er an den Cunninghams gescheitert. Old Sarum, der Heimatort dieser Sippe, war von zwei Familien bevölkert, zwischen denen – jedenfalls anfangs – keinerlei Verwandtschaft bestand, obwohl sie unglücklicherweise den gleichen Namen trugen. Die Cunninghams heirateten die Coninghams, bis die Schreibweise der Namen nur noch theoretische Bedeutung hatte. Praktische Bedeutung bekam sie erst wieder, als eine Cunningham einem Coningham den Anspruch auf ein Stück Land streitig machte und das Gericht anrief. Während des Prozesses sagte Jeems Cunningham als Zeuge aus, dass seine Mutter auf Urkunden und dergleichen mit Cunningham unterzeichne, in Wirklichkeit aber eine Coningham sei.
Die Rechtschreibung gehöre nicht zu ihren starken Seiten, sie lese sehr selten und ziehe es vor, abends von der Vorderveranda in die Ferne zu schauen. Richter Taylor hörte sich neun Stunden lang die Wunderlichkeiten der Bewohner von Old Sarum an und wies dann die Klage ab. Als Grund dafür nannte er „rechtsmissbräuchliches geheimes Einverständnis“und erklärte, er hoffe zu Gott, die streitenden Parteien seien zufrieden, nachdem sie Gelegenheit gehabt hätten, sich vor der Öffentlichkeit auszusprechen. Und sie waren zufrieden. Mehr hatten sie eigentlich gar nicht gewollt.
Richter Taylor hatte eine bemerkenswerte Gewohnheit. Wenn man Glück hatte, konnte man beobachten, wie er, der das Rauchen im Gerichtssaal gestattete, obgleich er selbst niemals rauchte, eine lange, trockene Zigarre in den Mund steckte und sie langsam zerkaute.