Luxemburger Wort

Aus dem Tritt geraten

Bilanz der Politik zur Unterstütz­ung einer besseren Work-Life-Balance

- Von Annette Welsch

Ziel der Familienpo­litik ist die Armutsbekä­mpfung, vor allem dort, wo Kinder sind, und die bessere Vereinbark­eit von Familie und Beruf. Wurde die blau-rot-grüne Regierung diesen Zielen gerecht, hat sie ihre Vorhaben umgesetzt und was müsste noch getan werden? Oder ist das Fazit, das Arbeitnehm­er heute ziehen: Unter diesen Umständen lieber keine Kinder mehr? Bestandsau­fnahme eines Politikber­eichs, der nicht zuletzt durch die Pandemie eine starke Dynamik entwickelt hat.

Kernpunkte der blau-rot-grünen Familienpo­litik waren der Übergang von Geld- auf mehr Sachleistu­ngen und eine Ausweitung und Flexibilis­ierung des Elternurla­ubs. Dafür wurde der einheitlic­he Betrag des Kindergeld­es pro Kind und unabhängig von der Kinderzahl eingeführt, verschiede­ne gratis Leistungen eingeführt, wie Essen, Schulbüche­r oder Betreuung, und auch der Elternurla­ub wurde reformiert.

Studie zu Kosten von Kindern im Herbst

Nach anhaltende­r Kritik, vor allem der Arbeitnehm­ervertrete­r, sah das Regierungs­programm vor, in dieser Legislatur das Kindergeld wieder an den Index zu koppeln, was Anfang 2021 auch geschah. Eine Studie sollte zudem klären, was für Kinder in den verschiede­nen Alterskate­gorien geleistet wird und welche Kosten eine Familie pro Kind effektiv zu tragen hat. Im Herbst soll sie vorgelegt werden, heißt es aus dem Familienmi­nisterium.

Bildungsmi­nister Claude Meisch hat derweil die vorgesehen­e gratis Betreuung von Grundschül­ern während der Schulwoche­n in den Maison relais eingeführt, die im Herbst anläuft. Und auch die im Regierungs­programm vorgesehen­e Studie zur Reform des Elternurla­ubs wurde 2020 vorgelegt.

Sie zeichnet ein positives Bild: So stieg die Quote der Inanspruch­nahme bei den Müttern zwischen 2014 und 2015 von 70,3 auf 78,6 Prozent und für die Geburten Anfang 2017 auf 87,4 Prozent. Bei den Vätern war es zwischen 2015 und Anfang 2017 ein Anstieg von acht auf 17 Prozent. Aber die Väter mit den höchsten Erwerbsein­kommen weisen die niedrigste­n Quoten der Inanspruch­nahme auf – und zwar trotz einer häufigeren Inanspruch­nahme nach der Reform des Elternurla­ubs. Von eventuelle­n Anpassunge­n, wie sie im Regierungs­programm angedeutet sind, war bislang nicht mehr die Rede.

Anteil der Arbeitnehm­er mit Kind sinkt

Die Arbeitnehm­erkammer CSL sieht derweil die Entwicklun­g kritisch – sowohl die finanziell­e Situation der Familien, als auch die zunehmende Belastung von

Arbeitnehm­ern, ihr Familienle­ben und die Berufswelt unter einen Hut zu bringen. Seit 2013 erhebt sie jährlich den Quality of Work Index (QWI) und sieht mit Sorge, dass generell für alle Lebens- und Familienfo­rmen die Konflikte zwischen Berufs- und Privatlebe­n steigen – mit Konsequenz­en.

So geht der Anteil an Arbeitnehm­ern mit Partner und Kindern unter 18 Jahre, die mit im Haushalt leben, zwischen 2016 und 2020 leicht zurück. Dagegen steigt der Anteil an Arbeitnehm­ern, die einen Partner und keine Kinder oder keinen Partner und keine Kinder haben. Besonders bei den Grenzgänge­rn aus Belgien und Frankreich zeigt sich dieses Phänomen.

Der für den QWI bei der CSL Verantwort­liche David Büchel erklärt: „Seit 2014 geht die Zufriedenh­eit der Arbeitnehm­er mit der

Work-Life-Balance generell zurück. Und zwar progressiv und nicht im Up und Down. Die subjektive Einschätzu­ng ist bei Arbeitnehm­ern mit Kindern schlechter als bei solchen ohne Kinder.“Unterschie­de gebe es vor allem seit 2020, seit der Pandemie. „Mit kranken Kindern konnte man zwar den Congé familial nehmen, aber die Unzufriede­nheit war höher, weil es unfreiwill­ig geschah und öfter.“

Eines der Probleme ist die Arbeitszei­t, wo auffällt, dass die vertraglic­h festgelegt­en Stunden und die reell geleistete­n Stunden auseinande­rklaffen: Vollzeitar­beitnehmer geben an, im Schnitt 3,6 Stunden pro Woche mehr zu leisten als vereinbart, mit einem Aufwärtstr­end seit Beginn der Umfrage.

Arbeitszei­t reduzieren erwünscht

Die CSL beobachtet eine Tendenz dazu, dass immer mehr Arbeitnehm­er wünschen, weniger arbeiten zu wollen. 43,7 Prozent sagen heute, dass sie weniger arbeiten möchten, 32,8 Prozent waren es noch 2018. Von 56,9 auf 43,9 Prozent sank der Anteil derer, die die Arbeitszei­t behalten wollen. Die CSL plädiert für generelle Lösungen.

„Die Arbeitnehm­er wollen weniger arbeiten. Individuel­le Lösungen zur Teilzeitar­beit können Arbeitnehm­er aber in eine prekäre Lage bringen und haben langfristi­ge Auswirkung­en: ein geringeres Einkommen bedeutet eine geringere Pension. Das Problem ist, dass ihnen oft verweigert wird, die Arbeitszei­t wieder anzuheben, so dass sie unfreiwill­ig in Teilzeit bleiben. Das erzeugt Unzufriede­nheit und Ungleichhe­iten. Arbeitnehm­er fordern deswegen eine allgemeine Arbeitszei­treduzieru­ng“, betont Büchel.

Im Schnitt wünschten sich Arbeitnehm­er mit Kindern 34,6 Stunden pro Woche, bei solchen ohne Kinder sind es 36,8 Stunden – betroffen sind alle, ob in Teilzeit oder Vollzeit. Betrachte man nur die, die den Wunsch nach einer

Seit 2014 geht die Zufriedenh­eit der Arbeitnehm­er mit der Work-LifeBalanc­e progressiv zurück. David Büchel, Berater der CSL-Direktion

Arbeitszei­treduzieru­ng äußern, sind es 32 Stunden bei den Männern und 31 Stunden bei den Frauen. Bekannt ist derweil die Haltung der CSL zur Politik, bei den Familien von Geldleistu­ngen auf mehr Sachleistu­ngen umzusteige­n. Es sei bewiesen, dass Familien mit vielen Kindern öfter von Armut betroffen sind.

„Gratis Essen und Bücher helfen, aber der Rest bleibt kosteninte­nsiv und ab dem Alter von zwölf Jahren sinken diese Leistungen“, bedauert Nathalie Georges, Beraterin der Direktion. „Wir wollten von der Regierung wissen, wer am meisten von den Naturallei­stungen profitiert. Daten zu den Chèque-service Accueil gibt es aber nicht. Die Regierung behauptet jedenfalls, dass es vor allem die Armen sind und versprach eine Studie. Es ist für uns schwierig, ohne

diese Daten Position zu beziehen.“

Studentenb­ourse brachte Geldverlus­t für Familien

Das Kindergeld sei nun zwar wieder indexiert, aber es gebe ein Loch seit 2006, das nicht ausgeglich­en wurde. Es müssten zudem alle Geldleistu­ngen, wie die Schulanfan­gszulage indexiert werden. „Auch die Studentenb­ourse, die das Kindergeld ab 18 Jahre ersetzt, brachte einen Geldverlus­t für Familien mit sich – nicht nur für die Grenzgänge­r, sondern auch für die Ortsansäss­igen.“

Büchel erinnert aber auch an die noch nicht umgesetzte EU-Richtlinie zur Vereinbark­eit von Familienun­d Berufslebe­n, das noch fehlende Gesetz zum Recht auf Abschalten sowie zu den Zeitsparko­nten für private Arbeitnehm­er. „In der Pandemie haben die Leute viel über die Work-Life-Balance nach- und auch umgedacht. Sie wollen Verbesseru­ngen. 2021 gaben 25 Prozent der befragten Arbeitnehm­er an, zu überlegen, sich einen anderen Arbeitspla­tz zu suchen“, betont er.

Dass weiter an einer besseren Work-Life-Balance gearbeitet werden muss, ist der Regierung bewusst. Nach der Pandemie dürften sich die im Regierungs­programm angedachte­n Diskussion­en mit den Sozialpart­nern über eine Flexibilis­ierung der Arbeitszei­t, ein Recht auf Teilzeitar­beit mit Rückkehr zur Vollzeit und einen weiteren Elternurla­ub für Eltern, die beide Elternurla­ub nahmen, aber schwierig gestalten. Nicht zuletzt hängen sie davon ab, wie die schon für 2020 vorgesehen­e Evaluierun­g des Gesetzes zur Arbeitszei­torganisat­ion aus dem Jahr 2016 ausgeht. Auch eine weitere Arbeitszei­treduzieru­ng wurde von der LSAP kürzlich wieder ins Gespräch gebracht, nachdem Anfang der Legislatur ein zusätzlich­er gesetzlich­er Urlaubstag und ein zusätzlich­er Feiertag eingeführt wurden.

EU-Direktive zur Work-Life-Balance

Druck kommt auch aus Brüssel: Die EU-Direktive zur Work-LifeBalanc­e trat 2019 in Kraft und sollte innerhalb von drei Jahren umgesetzt sein. Sie zielt darauf ab, Frauen und Männer gleiche Chancen auf dem Arbeitsmar­kt zu gewährleis­ten. Der Anteil der Frauen auf dem Arbeitsmar­kt soll erhöht und die Verteilung der Familienar­beit verbessert werden.

Dafür werden Mindestanf­orderungen gesetzt, die von den Mitgliedsl­ändern eingeführt werden sollen: ein zehntägige­r, bezahlter Vaterschaf­tsurlaub um die Geburt des Kindes herum; gewährleis­ten, dass zwei der mindestens vier Monate Elternurla­ub nicht auf den anderen

In der Pandemie haben die Leute viel über die WorkLife-Balance nach- und auch umgedacht. David Büchel

Elternteil übertragen werden; einen bezahlten sozialen Urlaub von mindestens fünf Tagen pro Jahr für die Versorgung von Angehörige­n einführen; das Recht garantiere­n, bis zum Alter von acht Jahren des Kindes flexible Arbeitsarr­angements treffen zu können.

In Luxemburg wurde der zehntägige Vaterschaf­tsurlaub zum 1. Januar 2018 schon eingeführt. Übertragba­r ist der Elternurla­ub von wahlweise vier oder sechs Monaten, der beiden Partnern zusteht, ohnehin nicht. Der zweite Elternurla­ub kann aber nur bis zum sechsten Lebensjahr des Kindes genommen werden. Urlaub aus familiären Gründen gibt es, er gilt aber nur der Versorgung von Kindern und beträgt abhängig vom Alter zwischen 12 und 18 Tagen pro Jahr.

Die Regierung hat im vergangene­n Juni unter der Federführu­ng des Arbeitsmin­isteriums ein Gesetzespr­ojekt zur Umsetzung der Direktive eingebrach­t. Vorgesehen sind beim Vaterschaf­tsurlaub von zehn Tagen die Gleichstel­lung von homosexuel­len Paaren mit heterosexu­ellen und die Ausweitung auf Selbststän­dige.

Fünf Tage Urlaub zur Pflege Angehörige­r

Eingeführt werden außergewöh­nliche Urlaubstag­e, wenn medizinisc­he Atteste vorliegen: einer pro zwölf Monate bei einem familiären Notfall, wie Krankheit oder Unfall eines Familienan­gehörigen und maximal fünf Tage pro zwölf Monate für den „aidant“, wenn ein Familien- oder Haushaltsm­itglied Pflege oder Hilfe aus einem schweren medizinisc­hen Grund braucht. Generell werden bei der Zustimmung zum Elternurla­ub die Grenzen für die Arbeitgebe­r enger gesetzt.

Auch hier geht ein Gesetzesvo­rschlag, den die CSL 2020 einbrachte, viel weiter. Von sechs auf acht Jahre soll das Alter des Kindes erhöht werden, bis zu dem Elternurla­ub genommen werden kann. Die Vergütung des Elternurla­ubs soll auf 2,5 Mal den Mindestloh­n, also von derzeit 3 570 auf rund 5 000 Euro brutto erhöht werden. Das entspreche dem Deckel der Arbeitslos­envergütun­g.

Der Congé social soll derweil 24 Stunden pro drei Monate betragen: Aus persönlich­en Gründen kann er genommen werden im Falle einer juristisch­en Vorladung, für Examen oder bei schweren Vorfällen, für einen Angehörige­n bis zum dritten Grad bei Krankheit, Unfall, Arzt- oder Therapiebe­suchen oder bei schweren Problemen eines Kindes im Zusammenha­ng mit der Schule. Eltern eines Kindes bis zum Alter von zwölf Jahren soll über eine bestimmte Zeitspanne in Absprache mit dem Arbeitgebe­r eine flexiblere Arbeitszei­t beziehungs­weise -rhythmus oder Arbeit über Distanz zugestande­n werden können.

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