Wer die Nachtigall stört
68
Stück für Stück verschwand die kalte Zigarre und kam einige Stunden später, ihres Aromas beraubt und mit Richter Taylors Verdauungssäften vermischt, als flaches, glitschiges Etwas wieder zum Vorschein.
Ich fragte Atticus einmal, wie es Mrs. Taylor ertragen könne, ihren Mann zu küssen. Atticus erwiderte, dass sich die beiden nicht oft küssten.
Der Zeugenstand war rechts von Richter Taylor. Als wir unsere Plätze erreichten, wurde gerade Mr. Heck Tate vernommen.
KAPITEL 17
„Jem“, fragte ich, „sind das die Ewells, die da unten sitzen?“
„Still“, flüsterte er, „Mr. Heck Tate sagt aus.“
Mr. Tate trug zu Ehren des Gerichts einen Straßenanzug, in dem er aussah wie jedermann. Die hohen Stiefel, der Lumberjack, der mit Patronen gespickte Gürtel waren verschwunden, und nun flößte er mir keine Angst mehr ein. Er saß im Zeugenstand, vorgebeugt, die Hände zwischen den Knien gefaltet, und hörte aufmerksam dem Staatsanwalt zu.
Mit diesem Herrn, einem Mr. Gilmer, waren Jem und ich nicht näher bekannt. Er wohnte in Abbottsville
und kam nur zu den Gerichtsverhandlungen nach Maycomb. Aber auch dann sahen wir ihn selten, weil uns Prozesse nicht sonderlich interessierten. Mit seinem glatten Gesicht und der beginnenden Glatze konnte er ebenso gut vierzig wie sechzig Jahre zählen. Obwohl er uns den Rücken zukehrte, wussten wir, dass er auf dem einen Auge schielte. Das nutzte er zu seinem Vorteil aus: Auch wenn er einen nicht anschaute, hatte man immer das Gefühl, beobachtet zu werden, und damit machte er Geschworenen wie Zeugen das Leben sauer. Die Geschworenen, die sich seinem scharf forschenden Blick ausgesetzt glaubten, passten auf wie die Schießhunde, und die Zeugen, die sich ebenfalls unter Kontrolle fühlten, taten ein Gleiches.
„… in Ihren eigenen Worten, Mr. Tate“, sagte Mr. Gilmer gerade.
„Nun …“Mr. Tate fingerte an seiner Brille herum und starrte auf seine Knie. „Man hat mich gerufen …“
„Würden Sie sich den Geschworenen zuwenden, Mr. Tate? Danke sehr. Wer hat Sie gerufen?“
„Ich wurde von Bob … von Mr. Bob Ewell da drüben geholt, eines Abends …“
„An welchem Abend?“
„Am Abend des einundzwanzigsten November. Ich war in meinem Büro und wollte gerade nach Hause gehen, als Bob … Mr. Ewell reinkam. Er war sehr aufgeregt und sagte, ich sollte rasch kommen, ein Nigger hätte seine Tochter vergewaltigt.“
„Sind Sie mitgegangen?“„Natürlich. Ich bin in den Wagen gestiegen und so schnell wie möglich hingefahren.“
„Und was fanden Sie dort vor?“„Das Mädchen lag auf dem Fußboden, mitten im Vorderzimmer – in dem Zimmer rechts vom Eingang. Sie war ganz schön zugerichtet. Ich habe ihr aufgeholfen, und sie hat sich das Gesicht in einem Kübel in der Ecke gewaschen und gesagt, sie fühle sich schon wieder besser. Auf meine Frage, wer sie verletzt hätte, antwortete sie, es wäre Tom Robinson gewesen …“
Richter Taylor, in die Betrachtung seiner Fingernägel vertieft, blickte auf, als erwartete er einen Einspruch. Doch Atticus schwieg.
„… Ich habe sie gefragt, ob er sie so zugerichtet hätte, und sie hat ja gesagt. Auch die Frage, ob er sich an ihr vergangen hätte, hat sie bejaht. Da bin ich zu Robinsons Haus gegangen und habe ihn dem Mädchen gegenübergestellt. Sie hat ihn als den Schuldigen bezeichnet, und da habe ich ihn verhaftet. Das ist alles.“
„Danke“, sagte Mr. Gilmer. „Irgendwelche Fragen, Atticus?“, erkundigte sich Richter Taylor.
„Ja“, antwortete mein Vater. Er hatte seinen Stuhl hinter dem Tisch schräg gerückt und saß mit übereinandergeschlagenen Beinen da. Sein Arm lag auf der Stuhllehne. „Haben Sie einen Arzt gerufen, Sheriff? Hat irgendjemand einen Arzt gerufen?“, fragte er. „Nein, Sir“, sagte Mr. Tate.
„Es wurde also kein Arzt gerufen?“
„Nein, Sir“, wiederholte Mr. Tate.
„Warum nicht?“Atticus’ Stimme klang scharf.
„Das will ich Ihnen sagen, Mr. Finch. Weil’s nicht nötig war. Sie hatte tüchtige Prügel bezogen, und es stand einwandfrei fest, dass etwas passiert war.“
„Aber Sie haben keinen Arzt gerufen? Hat irgendjemand, während Sie dort waren, einen Arzt rufen lassen oder geholt oder das Mädchen zum Arzt gebracht?“„Nein, Sir …“
„Er hat die Frage dreimal beantwortet, Atticus“, unterbrach Richter Taylor. „Es wurde kein Arzt gerufen.“
„Ich wollte nur ganz sichergehen“, sagte Atticus, und der Richter
lächelte. Jems Hand, die auf dem Geländer lag, krampfte sich plötzlich zusammen, und ich hörte ihn nach Luft schnappen. Da ich nichts im Saal entdecken konnte, was seine Erregung rechtfertigte, nahm ich an, er versuchte, sich dramatisch zu gebärden. Dill saß friedlich auf seinem Platz, ebenso Reverend Sykes. „Was ist los?“, flüsterte ich Jem zu und wurde mit einem kurzen „Pst“abgefertigt.
„Sheriff“, fuhr Atticus fort, „Sie sagten, sie hätte tüchtige Prügel bezogen. Worin kam das zum Ausdruck?“
„Nun …“
„Schildern Sie einfach ihre Verletzungen, Heck.“
„Nun, sie war auf den Kopf geschlagen worden. An den Armen habe ich auch blutunterlaufene Stellen gesehen, und es war ungefähr dreißig Minuten vorher passiert …“
„Woher wissen Sie das?“
Mr. Tate grinste. „Ach so, Verzeihung … das haben die mir gesagt. Jedenfalls war sie ganz hübsch verbeult, als ich hinkam, und das eine Auge wurde schon blau.“
„Welches Auge?“
Mr. Tate blinzelte und fuhr sich mit der Hand durch das Haar. „Warten Sie mal …“, murmelte er und warf Atticus einen Blick zu, der andeutete, dass er die Frage für kindisch hielt.