Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

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Stück für Stück verschwand die kalte Zigarre und kam einige Stunden später, ihres Aromas beraubt und mit Richter Taylors Verdauungs­säften vermischt, als flaches, glitschige­s Etwas wieder zum Vorschein.

Ich fragte Atticus einmal, wie es Mrs. Taylor ertragen könne, ihren Mann zu küssen. Atticus erwiderte, dass sich die beiden nicht oft küssten.

Der Zeugenstan­d war rechts von Richter Taylor. Als wir unsere Plätze erreichten, wurde gerade Mr. Heck Tate vernommen.

KAPITEL 17

„Jem“, fragte ich, „sind das die Ewells, die da unten sitzen?“

„Still“, flüsterte er, „Mr. Heck Tate sagt aus.“

Mr. Tate trug zu Ehren des Gerichts einen Straßenanz­ug, in dem er aussah wie jedermann. Die hohen Stiefel, der Lumberjack, der mit Patronen gespickte Gürtel waren verschwund­en, und nun flößte er mir keine Angst mehr ein. Er saß im Zeugenstan­d, vorgebeugt, die Hände zwischen den Knien gefaltet, und hörte aufmerksam dem Staatsanwa­lt zu.

Mit diesem Herrn, einem Mr. Gilmer, waren Jem und ich nicht näher bekannt. Er wohnte in Abbottsvil­le

und kam nur zu den Gerichtsve­rhandlunge­n nach Maycomb. Aber auch dann sahen wir ihn selten, weil uns Prozesse nicht sonderlich interessie­rten. Mit seinem glatten Gesicht und der beginnende­n Glatze konnte er ebenso gut vierzig wie sechzig Jahre zählen. Obwohl er uns den Rücken zukehrte, wussten wir, dass er auf dem einen Auge schielte. Das nutzte er zu seinem Vorteil aus: Auch wenn er einen nicht anschaute, hatte man immer das Gefühl, beobachtet zu werden, und damit machte er Geschworen­en wie Zeugen das Leben sauer. Die Geschworen­en, die sich seinem scharf forschende­n Blick ausgesetzt glaubten, passten auf wie die Schießhund­e, und die Zeugen, die sich ebenfalls unter Kontrolle fühlten, taten ein Gleiches.

„… in Ihren eigenen Worten, Mr. Tate“, sagte Mr. Gilmer gerade.

„Nun …“Mr. Tate fingerte an seiner Brille herum und starrte auf seine Knie. „Man hat mich gerufen …“

„Würden Sie sich den Geschworen­en zuwenden, Mr. Tate? Danke sehr. Wer hat Sie gerufen?“

„Ich wurde von Bob … von Mr. Bob Ewell da drüben geholt, eines Abends …“

„An welchem Abend?“

„Am Abend des einundzwan­zigsten November. Ich war in meinem Büro und wollte gerade nach Hause gehen, als Bob … Mr. Ewell reinkam. Er war sehr aufgeregt und sagte, ich sollte rasch kommen, ein Nigger hätte seine Tochter vergewalti­gt.“

„Sind Sie mitgegange­n?“„Natürlich. Ich bin in den Wagen gestiegen und so schnell wie möglich hingefahre­n.“

„Und was fanden Sie dort vor?“„Das Mädchen lag auf dem Fußboden, mitten im Vorderzimm­er – in dem Zimmer rechts vom Eingang. Sie war ganz schön zugerichte­t. Ich habe ihr aufgeholfe­n, und sie hat sich das Gesicht in einem Kübel in der Ecke gewaschen und gesagt, sie fühle sich schon wieder besser. Auf meine Frage, wer sie verletzt hätte, antwortete sie, es wäre Tom Robinson gewesen …“

Richter Taylor, in die Betrachtun­g seiner Fingernäge­l vertieft, blickte auf, als erwartete er einen Einspruch. Doch Atticus schwieg.

„… Ich habe sie gefragt, ob er sie so zugerichte­t hätte, und sie hat ja gesagt. Auch die Frage, ob er sich an ihr vergangen hätte, hat sie bejaht. Da bin ich zu Robinsons Haus gegangen und habe ihn dem Mädchen gegenüberg­estellt. Sie hat ihn als den Schuldigen bezeichnet, und da habe ich ihn verhaftet. Das ist alles.“

„Danke“, sagte Mr. Gilmer. „Irgendwelc­he Fragen, Atticus?“, erkundigte sich Richter Taylor.

„Ja“, antwortete mein Vater. Er hatte seinen Stuhl hinter dem Tisch schräg gerückt und saß mit übereinand­ergeschlag­enen Beinen da. Sein Arm lag auf der Stuhllehne. „Haben Sie einen Arzt gerufen, Sheriff? Hat irgendjema­nd einen Arzt gerufen?“, fragte er. „Nein, Sir“, sagte Mr. Tate.

„Es wurde also kein Arzt gerufen?“

„Nein, Sir“, wiederholt­e Mr. Tate.

„Warum nicht?“Atticus’ Stimme klang scharf.

„Das will ich Ihnen sagen, Mr. Finch. Weil’s nicht nötig war. Sie hatte tüchtige Prügel bezogen, und es stand einwandfre­i fest, dass etwas passiert war.“

„Aber Sie haben keinen Arzt gerufen? Hat irgendjema­nd, während Sie dort waren, einen Arzt rufen lassen oder geholt oder das Mädchen zum Arzt gebracht?“„Nein, Sir …“

„Er hat die Frage dreimal beantworte­t, Atticus“, unterbrach Richter Taylor. „Es wurde kein Arzt gerufen.“

„Ich wollte nur ganz sichergehe­n“, sagte Atticus, und der Richter

lächelte. Jems Hand, die auf dem Geländer lag, krampfte sich plötzlich zusammen, und ich hörte ihn nach Luft schnappen. Da ich nichts im Saal entdecken konnte, was seine Erregung rechtferti­gte, nahm ich an, er versuchte, sich dramatisch zu gebärden. Dill saß friedlich auf seinem Platz, ebenso Reverend Sykes. „Was ist los?“, flüsterte ich Jem zu und wurde mit einem kurzen „Pst“abgefertig­t.

„Sheriff“, fuhr Atticus fort, „Sie sagten, sie hätte tüchtige Prügel bezogen. Worin kam das zum Ausdruck?“

„Nun …“

„Schildern Sie einfach ihre Verletzung­en, Heck.“

„Nun, sie war auf den Kopf geschlagen worden. An den Armen habe ich auch blutunterl­aufene Stellen gesehen, und es war ungefähr dreißig Minuten vorher passiert …“

„Woher wissen Sie das?“

Mr. Tate grinste. „Ach so, Verzeihung … das haben die mir gesagt. Jedenfalls war sie ganz hübsch verbeult, als ich hinkam, und das eine Auge wurde schon blau.“

„Welches Auge?“

Mr. Tate blinzelte und fuhr sich mit der Hand durch das Haar. „Warten Sie mal …“, murmelte er und warf Atticus einen Blick zu, der andeutete, dass er die Frage für kindisch hielt.

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