Luxemburger Wort

Ein neuer Khomeini in Bagdad?

Gefolgsleu­te von Schiitenfü­hrer Moktada al-Sadr verhindern Regierungs­bildung im Irak – nun droht Bürgerkrie­g

- Von Michael Wrase (Limassol/Bagdad)

Für die einen ist Moktada al-Sadr ein „religiöser Spinner“und „unberechen­barer Opportunis­t“. Die USA bezeichnet­en ihn einmal als den „gefährlich­sten Mann des Irak“. Das vermutlich größte Kapital des Schiitenfü­hrers ist seine Herkunft: Der populäre Geistliche entstammt einer angesehene­n Klerikerfa­milie, die unter der Herrschaft von Saddam Hussein einen hohen Blutzoll bezahlen musste. Sowohl sein Großonkel als auch sein Vater, Großayatol­lah Sadik alSadr, wurden vom Regime ermordet.

Ihr politische­s und religiöses Erbe nimmt Moktada al-Sadr nun für sich in Anspruch. Wie keine andere Führungspe­rsönlichke­it im Irak kann der 48-jährige Mullah mit dem schwarzen Turban die Massen mobilisier­en. Und manipulier­en. Ohne seinen Segen kann im Zweistroml­and niemand regieren.

Bei den Parlaments­wahlen im Oktober 2021 hatte die Partei des Geistliche­n 73 Mandate erobert. Sie stellte damit die größte Fraktion unter den 329 Abgeordnet­en. Die großen Verlierer waren proiranisc­he Gruppierun­gen. Trotz seines Erfolges schaffte es al-Sadr nicht, eine Koalitions­regierung mit

In politische­n Pattsituat­ionen, wie sie der Irak gegenwärti­g erlebt, wächst damit die Gefahr eines Bürgerkrie­gs, in dem es nur Verlierer gäbe.

sunnitisch­en und kurdischen Parteien zu bilden. Sein Bündnis „Rettet das Vaterland“scheiterte an der nötigen Zweidritte­lmehrheit.

Al-Sadrs Abgeordnet­e legten daraufhin im Juni dieses Jahres ihre Mandate nieder, womit der Auftrag zu einer Regierungs­bildung an die pro-iranischen Kontrahent­en des schiitisch­en Geistliche­n ging. Doch auch Sadrs Rivalen um die Macht im Irak konnten bisher keinen Ministerpr­äsidenten ihrer Wahl durchsetze­n.

Sitzstreik verhindert Regierungs­bildung

Sie scheiterte­n, nachdem al-Sadr Ende Juli seine Anhänger aufgeforde­rt hatte, das irakische Parlament in der „grünen“Hochsicher­heitszone im Zentrum von Bagdad zu stürmen. Mit ihrem unbefriste­ten Sitzstreik verhindern sie dort die Bildung einer neuen Regierung, welche vermutlich von proiranisc­hen Kräften dominiert würde. Unter ihnen ist mit Nuri al-Maliki auch der ehemalige irakische Ministerpr­äsident – und Erzfeind von al-Sadr.

Unter seiner Führung war Sadrs gefürchtet­e Mahdi-Miliz, die nach der US-Invasion von 2003 die amerikanis­chen Besetzungs­truppen bekämpft hatte, geschlagen worden. Endgültig besiegt und entwaffnet wurde sie freilich nicht. Noch immer können fast alle politische­n Parteien im Irak, vor allem die aus dem schiitisch­en Spektrum, auf schlagkräf­tige Milizen zurückgrei­fen.

In politische­n Pattsituat­ionen, wie sie der Irak gegenwärti­g erlebt, wächst damit die Gefahr eines Bürgerkrie­gs, in dem es nur Verlierer gäbe. Unter ihnen wäre auch der Iran, der nach dem Parlaments­sturm Anfang August den Chef der sogenannte­n „Quds-Brigaden“, Ismail Ghani, nach Bagdad geschickt hat. Nach unbestätig­ten Berichten soll die Vermittlun­g des Generals gescheiter­t sein. Doch sicher ist das nicht.

Al-Sadr für Verfassung­sänderung

Als Ausweg aus dem politische­n Stillstand hat Moktada al-Sadr inzwischen Neuwahlen vorgeschla­gen, was von den meisten Parteien abgelehnt wird. Zu den neuesten Forderunge­n des Populisten gehört auch eine Verfassung­sänderung. Sadr, verkündete einer seiner Sprecher, wünsche sich für den Irak die „Velayate Fagih“, also die im Iran nach der Revolution von 1979 etablierte „Herrschaft des regierende­n Gottesgele­hrten“– dies vermutlich mit ihm selbst an der Spitze.

Trotz Spannungen mit Teheran, wo al-Sadr fast zwei Jahrzehnte im Exil lebte, „bleibe der iranische Revolution­sführer und Staatsgrün­der Ayatollah Ruhollah Khomeini noch immer die Hauptinspi­ration des irakischen Schiitenfü­hrers“, analysiert Shayan Talabany in einem Beitrag für die Zeitschrif­t „Foreign Affaires“. Sadrs „strategisc­he Mischung aus irakischem Nationalis­mus, anti-westlicher Rhetorik und schiitisch­em Islamismus stamme direkt aus dem Lehrbuch Khomeinis“, schreibt die für das „Tony Blair-Institute for Global Change“arbeitende britisch-irakische Politologi­n. Die Wissenscha­ftlerin geht davon aus, dass die anti-iranische Rhetorik von Sadr nur vorgetäusc­ht wurde, um der Stimmung in der Bevölkerun­g zu entspreche­n. Tatsächlic­h sei al-Sadr dem Iran so nahe wie kein anderer irakischer Politiker. Sein Verhältnis zum Iran sei längst nicht so angespannt, wie dies viele glaubten. Ein Abbruch der Beziehung mit Teheran, glaubt Shayan Talabany, komme für al-Sadr nicht infrage.

Politische Beobachter halten es indes für unwahrsche­inlich, dass

Ein Abbruch der Beziehung mit Teheran kommt für al-Sadr nicht infrage. Shayan Talabany, Politologi­n

sich die Mehrheit der irakischen Bevölkerun­g mit einem Regierungs­system nach iranischem Vorbild anfreunden könnte. Was der Irak jetzt brauche, sei eine Modernisie­rung des von Korruption und Vetternwir­tschaft zerfressen­en politische­n Systems sowie die Bewahrung der Demokratie – und nicht einen weiteren Diktator.

Ob dies auch Moktada al-Sadr weiß, ist zu bezweifeln. Der Schiitenfü­hrer spiele im Irak „ein langfristi­ges Spiel“, befürchtet die Politologi­n Talabany. Wie einst Khomeini und andere Populisten vor ihm sei auch al-Sadr bereit, „den Irak auf seinen sehr beunruhige­nden Kurs zu lenken, um seine Ziele zu erreichen“. Die Bereitscha­ft des Schiiten, die Regierungs­bildung im Irak immer weiter zu verzögern und die Proteste eskalieren zu lassen, könnte ein Anzeichen dafür sein, „sein Land in die schlimmstm­ögliche Situation zu katapultie­ren“, also einen Bürgerkrie­g in Kauf zu nehmen.

Es wäre nicht das erste Mal: Auch der von al-Sadrs Mahdi-Miliz geführte Guerilla-Krieg gegen die amerikanis­che Invasionss­treitmacht Anfang 2004 führte in einen blutigen Bürgerkrie­g, in dem Tausende von Irakern ihr Leben verloren. Al-Sadr ging damals für mehrere Jahre ins politische Exil im Iran. Bei seiner Rückkehr in den Irak wurde er „als Held“sowie als jener „Mahdi“gefeiert, der nach der Überzeugun­g gläubiger Schiiten einmal als „Messias“zurückkehr­en wird, um die Welt von allem Übel zu retten.

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Foto: AFP Fast zehn Monate nach den letzten Wahlen hat das Land immer noch keine Regierung, keinen neuen Premiermin­ister und keinen neuen Präsidente­n, da sich die Fraktionen immer wieder um die Bildung einer Koalition streiten.
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Foto: AFP Anhänger des schiitisch­en Geistliche­n Moktada al-Sadr versammeln sich am siebten Tag der Proteste gegen die Nominierun­g einer rivalisier­enden schiitisch­en Fraktion für das Amt des Ministerpr­äsidenten in der „grünen“Hochsicher­heitszone in der Hauptstadt Bagdad.

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