Ein neuer Khomeini in Bagdad?
Gefolgsleute von Schiitenführer Moktada al-Sadr verhindern Regierungsbildung im Irak – nun droht Bürgerkrieg
Für die einen ist Moktada al-Sadr ein „religiöser Spinner“und „unberechenbarer Opportunist“. Die USA bezeichneten ihn einmal als den „gefährlichsten Mann des Irak“. Das vermutlich größte Kapital des Schiitenführers ist seine Herkunft: Der populäre Geistliche entstammt einer angesehenen Klerikerfamilie, die unter der Herrschaft von Saddam Hussein einen hohen Blutzoll bezahlen musste. Sowohl sein Großonkel als auch sein Vater, Großayatollah Sadik alSadr, wurden vom Regime ermordet.
Ihr politisches und religiöses Erbe nimmt Moktada al-Sadr nun für sich in Anspruch. Wie keine andere Führungspersönlichkeit im Irak kann der 48-jährige Mullah mit dem schwarzen Turban die Massen mobilisieren. Und manipulieren. Ohne seinen Segen kann im Zweistromland niemand regieren.
Bei den Parlamentswahlen im Oktober 2021 hatte die Partei des Geistlichen 73 Mandate erobert. Sie stellte damit die größte Fraktion unter den 329 Abgeordneten. Die großen Verlierer waren proiranische Gruppierungen. Trotz seines Erfolges schaffte es al-Sadr nicht, eine Koalitionsregierung mit
In politischen Pattsituationen, wie sie der Irak gegenwärtig erlebt, wächst damit die Gefahr eines Bürgerkriegs, in dem es nur Verlierer gäbe.
sunnitischen und kurdischen Parteien zu bilden. Sein Bündnis „Rettet das Vaterland“scheiterte an der nötigen Zweidrittelmehrheit.
Al-Sadrs Abgeordnete legten daraufhin im Juni dieses Jahres ihre Mandate nieder, womit der Auftrag zu einer Regierungsbildung an die pro-iranischen Kontrahenten des schiitischen Geistlichen ging. Doch auch Sadrs Rivalen um die Macht im Irak konnten bisher keinen Ministerpräsidenten ihrer Wahl durchsetzen.
Sitzstreik verhindert Regierungsbildung
Sie scheiterten, nachdem al-Sadr Ende Juli seine Anhänger aufgefordert hatte, das irakische Parlament in der „grünen“Hochsicherheitszone im Zentrum von Bagdad zu stürmen. Mit ihrem unbefristeten Sitzstreik verhindern sie dort die Bildung einer neuen Regierung, welche vermutlich von proiranischen Kräften dominiert würde. Unter ihnen ist mit Nuri al-Maliki auch der ehemalige irakische Ministerpräsident – und Erzfeind von al-Sadr.
Unter seiner Führung war Sadrs gefürchtete Mahdi-Miliz, die nach der US-Invasion von 2003 die amerikanischen Besetzungstruppen bekämpft hatte, geschlagen worden. Endgültig besiegt und entwaffnet wurde sie freilich nicht. Noch immer können fast alle politischen Parteien im Irak, vor allem die aus dem schiitischen Spektrum, auf schlagkräftige Milizen zurückgreifen.
In politischen Pattsituationen, wie sie der Irak gegenwärtig erlebt, wächst damit die Gefahr eines Bürgerkriegs, in dem es nur Verlierer gäbe. Unter ihnen wäre auch der Iran, der nach dem Parlamentssturm Anfang August den Chef der sogenannten „Quds-Brigaden“, Ismail Ghani, nach Bagdad geschickt hat. Nach unbestätigten Berichten soll die Vermittlung des Generals gescheitert sein. Doch sicher ist das nicht.
Al-Sadr für Verfassungsänderung
Als Ausweg aus dem politischen Stillstand hat Moktada al-Sadr inzwischen Neuwahlen vorgeschlagen, was von den meisten Parteien abgelehnt wird. Zu den neuesten Forderungen des Populisten gehört auch eine Verfassungsänderung. Sadr, verkündete einer seiner Sprecher, wünsche sich für den Irak die „Velayate Fagih“, also die im Iran nach der Revolution von 1979 etablierte „Herrschaft des regierenden Gottesgelehrten“– dies vermutlich mit ihm selbst an der Spitze.
Trotz Spannungen mit Teheran, wo al-Sadr fast zwei Jahrzehnte im Exil lebte, „bleibe der iranische Revolutionsführer und Staatsgründer Ayatollah Ruhollah Khomeini noch immer die Hauptinspiration des irakischen Schiitenführers“, analysiert Shayan Talabany in einem Beitrag für die Zeitschrift „Foreign Affaires“. Sadrs „strategische Mischung aus irakischem Nationalismus, anti-westlicher Rhetorik und schiitischem Islamismus stamme direkt aus dem Lehrbuch Khomeinis“, schreibt die für das „Tony Blair-Institute for Global Change“arbeitende britisch-irakische Politologin. Die Wissenschaftlerin geht davon aus, dass die anti-iranische Rhetorik von Sadr nur vorgetäuscht wurde, um der Stimmung in der Bevölkerung zu entsprechen. Tatsächlich sei al-Sadr dem Iran so nahe wie kein anderer irakischer Politiker. Sein Verhältnis zum Iran sei längst nicht so angespannt, wie dies viele glaubten. Ein Abbruch der Beziehung mit Teheran, glaubt Shayan Talabany, komme für al-Sadr nicht infrage.
Politische Beobachter halten es indes für unwahrscheinlich, dass
Ein Abbruch der Beziehung mit Teheran kommt für al-Sadr nicht infrage. Shayan Talabany, Politologin
sich die Mehrheit der irakischen Bevölkerung mit einem Regierungssystem nach iranischem Vorbild anfreunden könnte. Was der Irak jetzt brauche, sei eine Modernisierung des von Korruption und Vetternwirtschaft zerfressenen politischen Systems sowie die Bewahrung der Demokratie – und nicht einen weiteren Diktator.
Ob dies auch Moktada al-Sadr weiß, ist zu bezweifeln. Der Schiitenführer spiele im Irak „ein langfristiges Spiel“, befürchtet die Politologin Talabany. Wie einst Khomeini und andere Populisten vor ihm sei auch al-Sadr bereit, „den Irak auf seinen sehr beunruhigenden Kurs zu lenken, um seine Ziele zu erreichen“. Die Bereitschaft des Schiiten, die Regierungsbildung im Irak immer weiter zu verzögern und die Proteste eskalieren zu lassen, könnte ein Anzeichen dafür sein, „sein Land in die schlimmstmögliche Situation zu katapultieren“, also einen Bürgerkrieg in Kauf zu nehmen.
Es wäre nicht das erste Mal: Auch der von al-Sadrs Mahdi-Miliz geführte Guerilla-Krieg gegen die amerikanische Invasionsstreitmacht Anfang 2004 führte in einen blutigen Bürgerkrieg, in dem Tausende von Irakern ihr Leben verloren. Al-Sadr ging damals für mehrere Jahre ins politische Exil im Iran. Bei seiner Rückkehr in den Irak wurde er „als Held“sowie als jener „Mahdi“gefeiert, der nach der Überzeugung gläubiger Schiiten einmal als „Messias“zurückkehren wird, um die Welt von allem Übel zu retten.