„Noch einmal Flüchtling sein, das war keine Option“
Anastasija Fedorchuk ist 2014 von der Krim nach Irpin geflohen und betreibt dort ein Café – ein weiteres Mal vor den Russen fliehen, kommt für sie nicht infrage
Anastasija Fedorchuk lernt jetzt Klavier. Sie zeigt ihr Telefon. Da ist ein Video. Hände, Tasten. Und nach und nach, beinahe im Takt, erklingen sie, die Töne, und eine Melodie wird erkennbar: „Chervona Kalyna“– was so viel heißt wie „Roter Schneeball“. Rot, das sind die Beeren dieser Pflanze.
Chervona Kalyna ist ein ukrainisches Volkslied. Ein patriotisches. Und ein Hit in der Ukraine, seit es der Sänger der ukrainischen Funk- und Reggae-Band BoomBox, Andriy Khlyvnyuk, in Militärmontur zum Besten gab. Anastasija Fedorchuk lacht. Viel Zeit hatte sie bisher ja nicht zum Üben. Sie steht in ihrem Café „Keks“. Und schon klingelt das Telefon, während eine Frau in die Bar kommt für einen Tratsch. „Wochenende“, so sagt Anastasija Fedorchuk irgendwann zwischendurch, „das gibt es nicht“.
Zwischenzeitlich in russischer Hand Draußen auf der Straße wird gehämmert und gebohrt, dazwischen ein verbranntes Auto voller Einschusslöcher. Zerborstene Glasscheiben in den Wohnungen über dem Souterrain-Café. Das ist Irpin. Jene Stadt nahe Kiew, die in den ersten Kriegsmonaten eines der am wildest umfehdeten Schlachtfelder im russischen Krieg gegen die Ukraine war. Zwischenzeitlich war sie in russischer Hand.
Vor dem Krieg war Irpin ein beschaulicher Vorort, ein Familienbezirk, bestehend aus Wohnblocks, Spielplätzen, Parks nahe Kiew. Sauber, pittoresk und vor allem ruhig und leistbar für die breiter werdende Mittelschicht. Ein Rückzugsort mit 47 000 Einwohnern inmitten von Wäldern.
Wälder sind das aber, in denen nach Ende der Besatzung durch die russische Armee bald Massengräber auftauchten. 1 300 Zivilisten wurden in Massengräbern in der Umgebung um Irpin und Butscha bisher gefunden – zum Teil gefesselt, zum Teil aufgereiht an Hauswänden, zum Teil vergewaltigt, ermordet und weggeworfen wie Mist in Hinterhöfe. Und heute? Heute ist Irpin ein Ort, an dem an allen Ecken gewerkt wird, als ginge es darum, den Krieg wegzuschrauben und wegzusägen.
Noch eine Frau betritt den Laden mit einem lauten „Hallo“. Anastasija Fedorchuk tingelt zwischen Bar und Tischen, redet, erzählt, springt thematisch hin und her zwischen früher, damals, den letzten Monaten und heute.
Früher, da war Sewastopol und 2014 die Flucht von der Krim, als Russland die Krim annektierte; damals, da war ein neues Leben in Irpin und schließlich das Café als einfaches Café – „ganz einfach, weil ich ohne Kaffee nicht in Schwung komme in der Früh, und das nächste Café damals so weit weg war“, sagt sie. Und dann: wieder die russische Armee vor der Haustüre mitsamt Granaten und Leichen auf den Straßen. Lange ist sie geblieben, erzählt sie. Bis zuletzt, wie sie sagt. Denn: „Noch einmal Flüchtling sein, das war keine Option.“Irgendwann aber war es dann ein Muss.
Julia, eine Frau im Café nickt. Auch sie kommt von der Krim. Aus Jalta. Kennengelernt haben sie und Anastasija einander aber hier. Sie sagt: „Irgendwann sind wir gerannt. Einfach gerannt. Jeder einen kleinen Rucksack. Wir wussten nicht, wo die Russen sind und wo unsere Leute. Wir sind einfach los.“Eine Pause. „Und überall die Leichen.“Noch eine Pause. „Dann...“, sagt sie, bricht den Satz aber ab, steht auf, umarmt Anastasija und geht raus eine rauchen.
Anastasija Fedorchuk ist eine Frau in ihren späten Zwanzigern. Jeans, T-Shirt, Jacke. Und wenn sie zu einer Ansage ausholt, dann ist das wie ein lauer, kräftiger, sehr eindringlicher Windstoß. Anastasija Fedorchuk sammelt: Windeln, Soldatenstiefel, Shampoo, Tarnnetze,
Geld. Helme für die Armee, alles Mögliche für Bedürftige im Ort und was eben geht für die Soldaten an der Front. Volontärin, Freiwillige ist sie also. Und das „Keks“-Café, das ist ihr kleines Hauptquartier.
Anastasija ist mit ihren Aktivitäten Teil einer Bewegung, die die Ukraine in allen möglichen Krisenzeiten immer am Laufen gehalten hat. Wer ein Café hat und viele Leute kennt, sammelt eben Güter, wer gute Verbindungen hat, sammelt Spenden, wer ein Auto hat, bringt die Dinge dann dorthin, wo sie benötigt werden. Wer schrauben, hämmern und bohren kann, schraubt, hämmert und bohrt. Ein Netzwerk ist das, das von Süditalien oder Spanien über die USA und Wien bis Irpin und weiter in die Ostukraine reicht. Eines, in dem Unternehmer, Studenten, Mütter, Babuschkas mit ausgefeilten Kenntnissen in der Produktion von Einmachgläsern sowie Caféhaus-Besitzerinnen und -Besitzer aktiv sind.
Zivilgesellschaftliches Engagement Ohne Freiwillige hätte die russische Armee 2014, als von Russland unterstützte Milizen in Allianz mit russischen Einheiten in der Ostukraine aktiv wurden, die Ukraine überrannt. Ohne sie hätten die Soldaten der Armee in den ersten Jahren dieses Krieges kein Essen an der Front gehabt, keine Kleidung und keine Schutzausrüstung. Die Armee hatte damals keinen Sprit, um Fahrzeuge in Gang zu setzen und keine Ausrüstung, keine Logistik für die Versorgung von Truppen – zu Tode gespart war sie von der gerade gestürzten Janukowitsch-Regierung.
Aber wenn die Ukraine in den Krisenmodus schaltet, funktioniert dieses Land auf zivilgesellschaftlicher Ebene dann eben doch wie ein Uhrwerk. Und so auch jetzt: Da werden gebrauchte Geländeautos aus Westeuropa für die Front organisiert, da werden Schutzwesten für die Soldaten aufgestellt, Nachtsichtgeräte, Helme, Nahrung, Medikamente, medizinische Versorgung.
Und so steht sie eben da, Anastasija: im Innenhof des Blocks, in dem sich ihr Café befindet, und sagt: „Nichts zu tun, geht nicht.“Still ist es im Hof. Nur fernes Hämmern, Bohren und Schleifen. Laut sei es hier immer gewesen. Wegen der Kinder. Aber auch ihr Sohn ist bei den Großeltern im Dorf, der Mann ist an der Front. Wie so viele Männer derzeit. Und sie sagt: „Dort, wo die Scheiben noch nicht erneuert sind, dort sind die Leute noch nicht zurück.“Viele Fenster gibt es zu noch erneuern in Irpin. „Es sind noch nicht viele zurück“, sagt sie und steigt über einen kleinen Mörser-Krater im Straßenpflaster neben dem Spielplatz. Hier ein Artillerieeinschlag in einem Wohnhaus, dort ein ausgebranntes Obergeschoss.
Anastasija winkt rüber zum Döner-Stand. Sie sagt: „Wir kooperieren, machen praktisch dasselbe. Probier das vegetarische Shuarma, das ist super.“Dann betritt sie ein Kellergeschoss, huscht um eine Ecke vorbei an Boxen und Kartons. Sie hat erweitert – weil das
Wir wussten nicht, wo die Russen sind und wo unsere Leute. Wir sind einfach los. Und überall die Leichen. Julia
Heute ist Irpin ein Ort, an dem an allen Ecken gewerkt wird, als ginge es darum, den Krieg wegzuschrauben und wegzusägen.
Café mit seinen 20 Quadratmetern nicht mehr ausgereicht und den Raum hier niemand gebraucht hat.
Und hier ist es aufgespannt, „ihr Juwel“, wie sie sagt. Ein Netz aus starken Fäden, in das vier Frauen Stoffstreifen weben – um es in ein Tarnnetz zu verwandeln. Anastasija wühlt sich durch einen Berg an Fetzen, der daneben liegt – dunkelgrüne Tischdecken mit Blumenmuster, braune Hemden, hellgrüne Blusen, Strumpfhosen. Dann sagt sie: „Wir müssen wieder zum Flohmarkt.“
Anastasija Fedorchuk in ihrem Café „Keks“in Irpin, einem Vorort nahe Kiew.