Luxemburger Wort

Das Herz Lateinamer­ikas schlägt wieder links

Kolumbiens Stunde null mit dem neu gewählten Präsidente­n Gustavo Petro verfestigt eine Tendenz

- Von Klaus Ehringfeld *

Kolumbien hat vergangene Woche den Sprung ins kalte Wasser gewagt. Zum ersten Mal überhaupt regiert im konservati­ven südamerika­nischen Land eine linke Regierung. Mit dem längst überfällig­en Machtwechs­el ist endlich demokratis­che Normalität in dem Land eingezogen, das so lange Geisel scheinbar unendliche­r Gewalt war. Möglich gemacht hat das der Friedenspr­ozess mit den Linksrebel­len der FARC Ende 2016, der einen jahrzehnte­langen Bürgerkrie­g beendete. Damit war der Vorwand verschwund­en, dass all diejenigen Wähler, die jemals ihr Kreuz bei einer linken Partei machten, heimlich die Guerilla unterstütz­ten.

Vorbild Chile

Es ist also jetzt Kolumbiens Stunde Null. Für die Bevölkerun­g werden die kommenden vier Jahre ein Lernprozes­s sein. Die Menschen werden erfahren, dass linke Regierunge­n nicht automatisc­h bedeuten, dass der Kommunismu­s an die Macht kommt. Der frühere Guerillero Gustavo Petro und seine Vizepräsid­entin Francia Márquez, ehemals Umweltakti­vistin, werden Kolumbien schon nach Kräften auf links ziehen. Aber dabei weder Kuba noch

Venezuela kopieren, sondern versuchen, dem Vorbild Chiles nachzueife­rn. Dort führt der junge Linkspräsi­dent Gabriel Boric eine gleichbere­chtigte, klimabeweg­te und einschließ­ende Regierung.

In Kolumbien und Chile ist jetzt eine moderne Linke an der Macht, weit weg von den autoritäre­n linken Caudillos alter lateinamer­ikanischer Schule, wie sie zum Beispiel Andrés Manuel López Obrador in Mexiko nahezu lehrbuchha­ft verkörpert.

Auch Argentinie­n und Peru werden in Schattieru­ngen eher von rückwärtsg­ewandten linken oder linksliber­alen Präsidente­n geführt. Bei ihnen werden zwar die klassische­n Themen wie Armutsbekä­mpfung, Arbeiterre­chte und Zugang zu Gesundheit und Bildung großgeschr­ieben, aber progressiv­e Themen der Aktualität wie Klimaschut­z, Gendergere­chtigkeit sowie die Einbeziehu­ng ethnischer Minderheit­en und der Zivilgesel­lschaft in Entscheidu­ngsprozess­e spielen fast keine Rolle. López Obrador in Mexiko hält soziale Organisati­onen sogar für potenziell­e Feinde, weil sie ihn kritisiere­n. Und die Ölförderun­g ist für ihn ein Pfeiler nationaler Souveränit­ät. Umwelt- und Klimaschut­z hält er dagegen für ein Unterwande­rungsinstr­ument des globalen Nordens. An dem Punkt gleicht der Alt-Linke López Obrador erschrecke­nd dem Neofaschis­ten Jair Bolsonaro in Brasilien.

Insofern ist dieser neue Eroberungs­zug linker Regierunge­n in Lateinamer­ika nur sehr bedingt mit dem zu Beginn des Jahrtausen­ds zu vergleiche­n. Damals waren ausnahmslo­s Caudillos alter Schule in den Machtposit­ionen, die mit den neuen Themen nichts am Hut hatten. Staatschef­s wie Hugo Chávez in Venezuela, Rafael Correa in Ecuador, Lula da Silva in Brasilien und Evo Morales in Bolivien setzten auf eine streng vertikale Macht, wirtschaft­lich auf Megaprojek­te und Export von Rohstoffen. Ökonomie ging ihnen immer über Ökologie.

Das zumindest ist nun unter Boric in Chile und Petro in Kolumbien ganz anders. Sollte sich im Oktober in Brasilien Lula da Silva gegen Bolsonaro durchsetze­n, wären die sechs größten und wirtschaft­lich stärksten Länder Lateinamer­ikas von Präsidente­n mit einer linksgeric­hteten Agenda regiert.

In Kolumbien hat sich das Duo Petro/Márquez historisch große wie notwendige Veränderun­gen vorgenomme­n. Aber der rechte Vorgänger Iván Duque hat das Land abgewirtsc­haftet, hinterläss­t Rekordstän­de bei Haushaltsd­efizit und Staatsschu­lden, die Inflation drückt mit fast elf Prozent auf die Einkommen.

Hier sind schnelle Lösungen gefragt. Und Petro verliert keine Zeit. In der ersten Woche im Amt brachte er eine Reform des Steuerrech­ts ins Parlament ein, bereitete ein Gesetz zum Verbot des Frackings sowie Vorhaben zu Gendergere­chtigkeit vor. Die neue Regierung weiß, dass sie die Gunst der Stunde nutzen muss und keine Zeit zu verlieren hat. In vier Jahren ist Schluss. Wiederwahl gibt es in Kolumbien nicht.

Eine Art radikaler Pazifismus

Petro und Márquez übernehmen ein Land in Unruhe, mancherort­s in Aufruhr. Auch besonders deshalb geht Petro beim Thema Gewalt und Befriedung ungewöhnli­che Wege. Er will den „Totalen Frieden“erreichen, das heißt, mit allen illegalen Gruppen und Gewaltakte­uren gleichzeit­ig und umfassend einen Frieden oder zumindest eine Waffenruhe verhandeln. Von der kleinen Linksgueri­lla ELN über die Dissidente­n der FARC, also denjenigen Rebellen, die den Frieden 2016 verweigert haben und bei den Waffen blieben, bis hin zum ultrarecht­en Verbrecher­syndikat „Golf-Clan“. Alle sollen gleichbere­chtigt ihre Chance auf Frieden bekommen. Es ist eine Art radikaler Pazifismus. Das ist ebenso mutig wie riskant.

Denn in vielen Regionen des Landes wird weiter blutig um Routen und Reviere, vor allem für Rauschgift, gerungen. Das Internatio­nale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) zählt sechs bewaffnete Konflikte zwischen verschiede­nen Akteuren und warnt vor einer humanitäre­n Katastroph­e. Zudem werden demobilisi­erte Guerillero­s und Aktivsten wie Gewerkscha­fter, Indigenenv­ertreter oder Kämpfer gegen illegalen Bergbau zu Hunderten ermordet. Selten war ein Frieden so blutig wie dieser.

Kaum weniger ambitionie­rt ist der Umbau der kolumbiani­schen Wirtschaft zu einer „green economy“. Die „Dekarbonis­ierung“der Wirtschaft, die Petro erreichen will, sieht mittelfris­tig das Ende von Ölförderun­g und Kohleabbau vor, den beiden wichtigste­n Devisenque­llen des Landes. Es sollen keine neuen Förderlize­nzen mehr vergeben, keine neuen Minen eröffnet werden. „Die Wirtschaft war lange genug der Feind der Umwelt“, sagte Petro bei der Amtsüberna­hme am Sonntag.

 ?? Foto: AFP ?? Kolumbiens neuer Präsident Gustavo Petro hat bereits in seiner ersten Woche im Amt eine Reform des Steuerrech­ts ins Parlament eingebrach­t.
Foto: AFP Kolumbiens neuer Präsident Gustavo Petro hat bereits in seiner ersten Woche im Amt eine Reform des Steuerrech­ts ins Parlament eingebrach­t.

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