Wer die Nachtigall stört
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„Können Sie sich nicht entsinnen?“
Mr. Tate deutete auf eine unsichtbare Person dicht vor ihm. „Das linke.“
„Einen Moment, Sheriff“, sagte Atticus.
„War es das linke, von Ihnen aus gesehen, oder das linke, von ihr aus gesehen?“
„Ach so, dann war es natürlich das rechte. Ja, es war ihr rechtes Auge, Mr. Finch. Jetzt erinnere ich mich, die rechte Seite vom Gesicht war blau und verschwollen …“
Mr. Tate blinzelte wieder, als hätte er plötzlich über irgendetwas Klarheit gewonnen. Dann wandte er sich nach dem Angeklagten um. Instinktiv hob Tom Robinson den Kopf.
Auch Atticus hatte über irgendetwas Klarheit gewonnen. Er stand auf.
„Bitte, Sheriff, wiederholen Sie, was Sie gesagt haben.“
„Ich habe gesagt, es war ihr rechtes Auge.“
„Nein …“Atticus ging zum Schreibtisch des Protokollführers. Die wütend kritzelnde Hand hielt inne, schlug die Seite des Stenogrammblocks zurück, und der Protokollführer las vor: „… Mr. Finch. Jetzt erinnere ich mich, die rechte Seite vom Gesicht war blau und verschwollen …“
Atticus blickte auf Mr. Tate. „Also welche Seite, Heck?“
„Die rechte Seite, Mr. Finch. Aber sie hatte noch andere Verletzungen … Wollen Sie darüber auch hören?“
Atticus schien eine weitere Frage auf der Zunge zu haben, besann sich jedoch anders und sagte: „Ja, was für Verletzungen hatte sie sonst noch?“
Während Mr. Tate antwortete, drehte sich Atticus um und blickte Tom Robinson an, als wollte er sagen, dies sei etwas, womit sie nicht gerechnet hätten.
„… blutunterlaufene Stellen an den Armen, und sie hat mir ihren Hals gezeigt. Es waren deutliche Fingerspuren zu sehen …“
„Rings um den Hals? Auch am Nacken?“
„Meiner Meinung nach rundherum, Mr. Finch.“
„Ihrer Meinung nach?“
„Jawohl, Sir. Sie hat einen dünnen Hals, jeder könnte ihn mit den Händen …“
„Bitte, Sheriff, antworten Sie nur mit Ja oder Nein“, sagte Atticus trocken, und daraufhin schwieg Mr. Tate.
Atticus setzte sich. Er nickte dem Staatsanwalt zu, der dem Richter mit einem Kopfschütteln bedeutete, dass er keine Fragen mehr hatte, und nun nickte der Richter Mr. Tate zu, der sich steifbeinig erhob und den Zeugenstand verließ.
Unter uns drehten sich Köpfe hin und her, Füße scharrten, Kleinkinder wanderten auf die andere Schulter, einige Jungen und Mädchen
Saal.
Die Neger hinter uns flüsterten leise miteinander. Dill erkundigte sich bei Reverend Sykes, um was es eigentlich gehe, und der antwortete, das wisse er auch nicht. Bis jetzt war alles sehr langweilig. Kein Donnerwetter, keine Wortgefechte zwischen den gegnerischen Anwälten, kein Drama – allem Anschein nach waren die Zuschauer tief enttäuscht. Atticus ging so liebenswürdig vor, als handle es sich darum, den rechtmäßigen Eigentümer eines Grundstücks zu ermitteln. Er hatte die unschätzbare Gabe, stürmische Wogen zu glätten, und konnte einem Vergewaltigungsprozess die Trockenheit einer Predigt geben. Verschwunden war das Grauen, das mich erfüllt hatte, das Grauen vor liefen aus dem
Whisky- und Schweinestallgerüchen, vor mürrischen Männern mit schläfrigen Augen, vor einer heiseren Stimme, die „Mr. Finch, sind sie fort?“in die Nacht rief. Unser Alptraum hatte sich im Tageslicht verflüchtigt, und alles würde sich schließlich zum Guten wenden.
Die Zuschauer saßen ebenso entspannt da wie Richter Taylor – alle außer Jem. Seine Lippen waren zu einem betonten halben Lächeln verzogen, und seine Augen blickten heiter umher. Er erzählte mir irgendetwas über zusätzliches Beweismaterial, was mich in der Überzeugung bestärkte, dass er angab.
„Robert E. Lee Ewell!“, dröhnte die Stimme des Gerichtsdieners.
Ein kleiner Mann erhob sich und stolzierte wie ein Zwerghahn zum Zeugenstand. Beim Aufruf seines Namens hatte sich Mr. Ewells Nacken gerötet, und als er sich umdrehte, um den Eid abzulegen, sahen wir, dass sein Gesicht ebenso rot war. Ich konnte keine Ähnlichkeit zwischen ihm und seinem Namensvetter, dem General Robert E. Lee, entdecken. Ein Schopf frischgewaschener Haare sträubte sich über seiner Stirn, die Nase war schmal, spitz und glänzend, und von einem Kinn konnte man eigentlich nicht sprechen – es schien mit dem faltigen Hals verwachsen zu sein.
„… so wahr mir Gott helfe“, krähte er.
Jede Stadt von der Größe Maycombs hatte Familien wie die Ewells, deren wirtschaftliche Lage durch nichts verändert wurde. Ob
Wohlstand oder tiefste Krise – Leute wie die Ewells lebten als Gäste der Behörden. Kein Fürsorgebeamter konnte ihre zahlreiche Nachkommenschaft zum Besuch der Schule bewegen, kein Gesundheitsinspektor war fähig, sie von ihren angeborenen Gebrechen oder von Würmern und anderen Leiden zu befreien, die in jeder schmutzigen Umgebung heimisch sind.
Die Ewells von Maycomb wohnten hinter der städtischen Müllkippe in einer ehemaligen Negerhütte. Die Bretterwände hatte man mit Wellblechplatten verstärkt, und das Dach war mit flachgehämmerten Blechdosen gedeckt, so dass nur die Form der Hütte verriet, welchem Zweck sie ursprünglich gedient hatte: ein würfelförmiges Gebilde, das unbehaglich auf vier unregelmäßigen Kalksteinblöcken ruhte und dessen vier winzige Zimmer zu beiden Seiten eines durchgehenden Flurs lagen.
Die Fenster waren lediglich Öffnungen in den Wänden, vor die man im Sommer schmierige Gaze spannte, um das Ungeziefer fernzuhalten, das sich auf dem Abfall von Maycomb gütlich tat.
Die Kost des Ungeziefers fiel allerdings etwas mager aus, denn die Ewells unterzogen die Abfälle täglich einer genauen Durchsicht.